Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Schließlich antwortete sie unbestimmt: »Danke«, und dann begab sie sich steifbeinig zum Büfett.
Edie drückte sich das kalte Glas an die Schläfe. Bis zu diesem Tag war sie weniger als ein halbes Dutzend Mal im Leben beschwipst gewesen, und zwar ausschließlich vor ihrem dreißigsten Lebensjahr und immer unter sehr viel fröhlicheren Umständen.
»Edith, Liebes, kann ich Ihnen bei irgendwas helfen?« Eine Frau aus der Baptistengemeinde, klein, rundgesichtig und von einer gutmütigen Wuseligkeit wie Winnie der Pu, an deren Namen sich Edie beim besten Willen nicht erinnern konnte, drängte sich auf.
»Nein, danke!« Sie klopfte der Lady auf die Schulter und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Die Schmerzen in ihren
Rippen waren atemberaubend, aber auf eine seltsame Weise war sie dankbar dafür, denn sie halfen ihr, sich zu konzentrieren: auf ihre Gäste, auf das Kondolenzbuch und auf saubere Gläser, auf die heißen Hors d’œuvres und auf den Nachschub an Crackern und auf das regelmäßige Nachfüllen der Bowle mit frischem Ginger Ale. All diese Sorgen wiederum lenkten sie von Libbys Tod ab, den sie noch nicht verdaut hatte. In den letzten Tagen – ein hektischer, grotesker Wirbel von Blumen und Ärzten und Bestattern und Papieren, die zu unterschreiben waren, und Gästen von außerhalb – hatte sie keine einzige Träne vergossen. Sie hatte sich mit dem Beisammensein nach der Beerdigung befasst (das Silber musste poliert, die Punschbecher mussten klirrend vom Dachboden geholt und gespült werden), unter anderm wegen der Gäste von außerhalb, die einander zum Teil schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Natürlich wollte jeder die Gelegenheit nutzen, Versäumtes nachzuholen, mochte der Anlass noch so traurig sein, und Edie war dankbar dafür, dass sie einen Grund hatte, in Bewegung zu bleiben und zu lächeln und die Schälchen mit gebrannten Mandeln aufzufüllen. Am Abend zuvor hatte sie sich ein weißes Kopftuch umgebunden und war mit Kehrschaufel und Möbelpolitur und Teppichkehrer durch das Haus geeilt, hatte bis nach Mitternacht Kissen aufgeschüttelt und Spiegel poliert und Möbel verrückt und Läufer ausgeschüttelt und die Böden geschrubbt. Sie hatte die Blumen arrangiert, sie hatte die Teller in ihrer Porzellanvitrine neu geordnet. Dann war sie in ihre makellose Küche gegangen und hatte die Spüle bis zum Rand mit Seifenlauge gefüllt und mit vor Erschöpfung zitternden Händen die verstaubten, zarten Punschbecher gespült, einen nach dem andern, hundert Stück alles in allem, und als sie morgens um drei endlich zu Bett gegangen war, hatte sie den Schlaf der Gerechten geschlafen.
Libbys kleine Katze mit dem rosa Näschen, Blossom – der neueste Zuwachs in ihrem Haushalt – hatte sich voller Angst in Edies Schlafzimmer zurückgezogen, wo sie unter dem Bett kauerte. Oben auf Bücherschrank und Porzellanvitrine hockten Edies eigene Katzen, alle fünf: Dot und Salambo, Rhamses
und Hannibal und Slim. Da saßen sie, jede für sich, zuckten mit den Schwänzen und starrten mit ihren gelben Hexenaugen auf das Treiben herab. Für gewöhnlich hatte Edie nicht mehr Freude an Gästen als die Katzen, aber heute war sie dankbar für diese Scharen, denn sie lenkten sie von ihrer Familie ab, deren Benehmen höchst unbefriedigend war, eher ärgerlich als tröstlich. Sie hatte von ihnen allen die Nase voll, besonders von Addie, die mit dem grässlichen alten Mr. Sumner herumturtelte: der glattzüngige Mr. Sumner, der Schäker, Mr. Sumner, den ihr Vater, der Richter, verachtet hatte. Andauernd berührte sie seinen Ärmel und klapperte mit den Augendeckeln, und dabei nippte sie Punsch, bei dessen Herstellung sie nicht geholfen, aus einem Becher, den sie nicht mitgespült hatte. Addie, die nicht ein einziges Mal nachmittags bei Libby im Krankenhaus gesessen hatte, weil sie ihr Mittagsschläfchen nicht verpassen wollte. Auch von Charlotte hatte sie die Nase voll; denn sie war gleichfalls nicht ins Krankenhaus gekommen, weil sie zu viel damit zu tun hatte, mit irgendeiner eingebildeten Schwermut im Bett herumzuliegen. Von Tatty hatte sie die Nase voll – die war zwar oft genug ins Krankenhaus gekommen, aber immer nur, um ganz unerbetene Szenarien darüber zum Vortrag zu bringen, wie Edith den Unfall hätte verhindern können und wie sie auf Allisons unzusammenhängenden Anruf hätte reagieren sollen. Und von den Kindern hatte sie die Nase voll, von ihnen und ihrem extravaganten Geweine im Institut und am
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