Der kleine Freund: Roman (German Edition)
weniger hübsch als sie alle (und sehr viel hübscher als Sissy Arnold, die lange Hexenzähne hatte und eine Figur wie ein Wiesel), aber irgendwie war aus der Kindheitsfreundin und Kameradin dieser Prinzessinnen eine Unperson geworden, eine, die man höchstens anrief, wenn man seine Hausaufgaben vergessen hatte. Das Gleiche galt für ihre Mutter. Obwohl sie Verbindungsstudentin gewesen war, allseits beliebt, zur Bestgekleideten ihrer Klasse gewählt, hatte auch sie eine Menge Freunde, die nicht mehr anriefen. Die Thorntons und die Bowmonts, die früher jede Woche mit Harriets Eltern Karten gespielt und sich mit ihnen ein Ferienhaus an der
Golfküste geteilt hatten, kamen jetzt nicht einmal mehr dann, wenn Harriets Vater in der Stadt war. Ihre Freundlichkeit, wenn sie Harriets Mutter in der Kirche begegneten, hatte etwas Gezwungenes: Die Männer waren übertrieben herzlich, die Stimmen der Frauen von kreischend munterer Lebhaftigkeit, und keine von ihnen schaute Harriets Mutter je wirklich in die Augen. Ginger und die anderen Mädchen im Schulbus behandelten Allison genauso: mit fröhlichen Plapperstimmen, aber den Blick abgewandt, als habe Allison eine ansteckende Krankheit.
Harriet (noch immer starrte sie finster auf den Gehweg) wurde von einem gurgelnden Geräusch aus diesen Gedanken gerissen. Der arme schwachsinnige Curtis Ratliff, der im Sommer unaufhörlich durch die Straßen von Alexandria streifte und Autos und Katzen mit seiner Wasserpistole bespritzte, kam schwerfällig quer über die Straße auf sie zu. Als er sah, dass sie ihn anschaute, erstrahlte sein zerdrücktes Gesicht in einem breiten Lächeln.
»Hat!« Er winkte mit beiden Armen – sein ganzer Körper geriet bei dieser Anstrengung ins Wackeln – und fing an, mühevoll auf- und abzuspringen, die Füße geschlossen, als wolle er ein Feuer austreten. »Okay? Okay?«
»Hallo, Alligator«, sagte Harriet, um ihm eine Freude zu machen. Curtis hatte eine lange Phase durchlebt, in der alles, was er gesehen hatte, »Alligator« gewesen war: sein Lehrer, seine Schuhe, der Schulbus.
»Okay? Okay, Hat?« Er würde nicht aufhören, bis er eine Antwort bekäme.
»Danke, Curtis, bei mir ist alles okay.« Curtis war zwar nicht taub, aber ein bisschen schwerhörig, und deshalb musste man immer daran denken, ein wenig lauter zu sprechen.
Curtis’ Lächeln wurde noch breiter. Mit seiner pummeligen Gestalt und seinem begriffsstutzigen, lieben Kleinkindbenehmen erinnerte er an den Maulwurf in Der Wind in den Weiden.
»Ess gern Kuchen«, sagte er.
»Curtis, solltest du nicht lieber von der Straße herunterkommen?«
Curtis schlug sich die Hand vor den Mund und erstarrte. »Oh, oh!«, krähte er, und dann noch einmal. »Oh, oh!« Wie ein Häschen hoppelte er über die Straße, sprang mit beiden Füßen, als hüpfe er über einen Graben, auf den Randstein und blieb vor ihr stehen. »Oh, oh!«, sagte er und zerfloß zu einem kichernden Wackelpudding, beide Hände vors Gesicht gedrückt.
»Entschuldige, aber du stehst mir im Weg«, sagte Harriet.
Curtis spähte zwischen den gespreizten Fingern hindurch. Er strahlte so sehr, dass seine winzigen dunklen Augen zu schmalen Schlitzen wurden.
»Schlangen beißen«, erklärte er unerwartet.
Harriet war verdattert. Teils weil er schlecht hörte, sprach Curtis nicht allzu deutlich. Bestimmt hatte sie ihn missverstanden, und er hatte etwas anderes gesagt: Stangeneis? Angelreise? Bye-bye?
Aber bevor sie ihn fragen konnte, tat Curtis einen mächtigen, geschäftsmäßigen Seufzer und steckte seine Wasserpistole in den Bund seiner steifen neuen Jeans. Dann nahm er ihre Hand und umschloss sie mit seiner großen, schlaffen, klebrigen.
»Beißen!«, sagte er fröhlich und deutete erst auf sich und dann auf das Haus gegenüber, und dann machte er kehrt und trottete die Straße hinunter, während Harriet ihm entnervt blinzelnd nachschaute und sich das Handtuch wieder fester um die Schultern zog.
Harriet wusste es nicht, aber Giftschlangen waren keine zehn Meter weit von ihr entfernt ebenfalls ein Gesprächsthema: in der oberen Wohnung eines Holzhauses auf der anderen Straßenseite, das wie mehrere andere Mietshäuser in Alexandria Roy Dial gehörte.
Das Haus war nichts Besonderes: weiß, zweistöckig, mit einer Holztreppe, die an der Seite zum ersten Stock hinaufführte, sodass es dort einen eigenen Eingang gab. Mr. Dial hatte sie bauen und die innere Treppe sperren lassen, um das, was einmal ein einzelnes Wohnhaus gewesen
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