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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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war, in zwei Mietwohnungen
umzuwandeln. Bevor Mr. Dial es gekauft und in Apartments aufgeteilt hatte, war es das Haus einer alten Baptistenlady namens Annie Mary Alford gewesen, die früher als Buchhalterin in der Holzfabrik gearbeitet hatte. Als sie eines regnerischen Sonntagmorgens auf dem Parkplatz der Kirche gestürzt war und sich die Hüfte gebrochen hatte, war es Mr. Dial (der als christlicher Geschäftsmann ein Interesse an alten und gebrechlichen Leuten hatte, besonders an betuchten, ohne Familie, die beratend tätig wurde) ein besonderes kleines Anliegen gewesen, Miss Annie Mary täglich einen Besuch abzustatten, um ihr Dosensuppen und Landausflüge zukommen zu lassen, aber auch inspirierende Lektüre, die Früchte der Jahreszeit und seine uneigennützigen Dienste als Vermögensverwalter und Rechtsvertreter.
    Weil Mr. Dial seine Gewinne pflichtschuldig auf die überquellenden Konten der Ersten Baptistenkirche überwies, sah er seine Methoden als gerechtfertigt an. Brachte er nicht schließlich Trost und christliche Nächstenliebe in das öde Leben dieser Leute? Zuweilen vermachten »die Ladys« (wie er sie nannte) ihm ihr Vermögen ganz unverblümt, so tröstlich empfanden sie seine freundliche Anwesenheit. Nur Miss Annie Mary, die schließlich fünfundvierzig Jahre lang Buchhalterin gewesen war, war sowohl durch ihren Beruf als auch von Natur aus misstrauisch, und nach ihrem Tod entdeckte er zu seinem Schrecken, dass sie – hinterlistigerweise, wie er fand – ohne sein Wissen einen Anwalt aus Memphis zu Rate gezogen und ein Testament aufgesetzt hatte, welches die informelle kleine, schriftliche Vereinbarung komplett außer Kraft setzte, die Mr. Dial ihr über die Maßen diskret vorgeschlagen hatte, während er an ihrem Krankenhausbett saß und ihre Hand tätschelte.
    Möglicherweise hätte Mr. Dial Miss Annie Marys Haus nach ihrem Tod gar nicht gekauft (denn es war nicht besonders billig), wenn er sich während ihrer letzten Krankheit nicht daran gewöhnt hätte, es als sein Eigentum zu betrachten. Nachdem er aus Erd- und Obergeschoss zwei einzelne Apartments gemacht und die Pekanbäume und Rosenbüsche abgeholzt hatte
(denn Bäume und Büsche bedeuteten Wartungskosten), hatte er das Erdgeschoss beinahe sofort an zwei junge Mormonen-Missionare vermietet. Das war fast zehn Jahre her, und die Mormonen wohnten immer noch dort, obwohl ihre Mission erbärmlich gescheitert war: In all den Jahren war es ihnen nicht gelungen, auch nur einen Einwohner von Alexandria zu ihrem frauentauschenden Utah-Jesus zu bekehren.
    Die Mormonenjungen glaubten, dass jeder, der kein Mormone sei, in die Hölle fahren werde. (»Ihr werdet’s dann da oben sicher ganz schön abgehen lassen, so allein!«, gluckste Mr. Dial gern, wenn er am Monatsersten vorbeikam, um die Miete zu kassieren; es war ein kleiner Scherz, den er sich gern mit ihnen machte.) Aber es waren adrette, höfliche Jungen, und ohne Not hätten sie sich niemals herbeigelassen, das Wort »Hölle« wirklich auszusprechen. Problematischer war das obere Apartment. Da Mr. Dial vor den Kosten für den Einbau einer zweiten Küche zurückscheute, war die Wohnung beinahe unmöglich loszuwerden, wenn man sie nicht an Schwarze vermietete. So hatte das Obergeschoss im Laufe der zehn Jahre etliches beherbergt: ein Fotostudio, ein Pfadfinderinnenheim, einen Kindergarten, eine Trophäenausstellung und eine Großfamilie von Osteuropäern, die, kaum dass Mr. Dial ihnen den Rücken zugekehrt hatte, alle ihre Freunde und Verwandten einziehen ließen und mit einer Kochplatte beinahe das ganze Haus abgefackelt hätten.
    In diesem oberen Apartment stand jetzt Eugene Ratliff, und zwar im vorderen Zimmer, wo Linoleum und Tapete von dem Zwischenfall mit der Kochplatte noch immer böse versengt waren. Er fuhr sich nervös mit der Hand über das Haar (das er im untergegangenen Rowdystil seiner Teenagerzeit mit Frisiercreme nach hinten pappte) und starrte durch das Fenster hinaus zu seinem zurückgebliebenen kleinen Bruder, der die Wohnung eben verlassen hatte und draußen einem dunkelhaarigen Kind auf die Nerven ging. Auf dem Boden hinter ihm standen ein Dutzend Dynamitkisten voller Giftschlangen: verschiedene Waldklapperschlangen, Östliche Diamantklapperschlangen, Wassermokassinschlangen und Kupferkopfschlangen
und – in einer Kiste für sich – eine einzelne Königskobra aus dem fernen Indien.
    An der Wand vor einem Brandfleck stand ein handgemaltes Schild, das Eugene selbst

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