Der König der Diamanten
harten Winterlicht. Eine dünne Schneeschicht überzog den Rasen und die Beete in Traves Garten, und mit den zwei Rotkehlchen auf einem Ast des Apfelbaums drüben an der hinteren Gartenmauer sah das Ganze wie eine Weihnachtskarte aus. Aber Trave kümmerte sich nicht darum. Ihm war überhaupt nicht feierlich zumute, und er hatte auch nicht die Absicht, gute Vorsätze für das neue Jahr zu fassen. Weihnachtsbaum, Weihnachtskarten, irgendwelcher Schmuck – nichts davon war in dem alten Haus in Nord-Oxford vorzufinden, in dem einst eine Familie gewohnt hatte.
Seitdem er sich vor drei Monaten in Blackwater Hall zum Affen gemacht hatte, hatte er von Vanessa nichts mehr gehört. Wie ein Vollidiot hatte er sich da aufgeführt! Zuerst Osman, dann Macrae gegenüber, der seine Angel, mit ein paar wohlgewählten Worten als Köder, der Presse zugeworfen und dann Swain und ihn selbst wie zwei zappelnde Fische an Land gezogen hatte. Swain wartete jetzt in London auf seine Gerichtsverhandlung – eine Verhandlung, die er nicht gewinnen konnte. Trave hingegen war bei halbem Gehalt vom Dienst suspendiert und hatte ein Diszplinarverfahren am Hals, aus dem er genausowenig als Gewinner hervorgehen würde. Und das, während Macrae in der Oxforder Polizeistation herumstolzierte, als würde sie ihm alleine gehören, und gleichzeitig Osman mit seinen manikürten Fingern Vanessas Körper betatschte … Trave schloss fest die Augen und versuchte mit aller Kraft, die unanständigen Bilder zu verjagen, die vor seinem geistigen Auge auftauchten. Das Telefon, das im vorderen Zimmer läutete, war eine willkommene Ablenkung.
Es war Clayton. »Bircher ist tot«, sagte er aufgeregt. »Er ist letzteNacht vom Dach eines Parkhauses in der Stadtmitte gestürzt. Oder wurde gestoßen …«
»Frohes neues Jahr 1961«, sagte Trave.
»Kann ich vorbeikommen?«
»Um von einem Ex-Bullen mit viel Freizeit ein paar Tipps zu kriegen? Warum nicht?«
»Danke.«
Trave zog sich an und ging mit einer Tasse Kaffee hinaus in den Garten. Die kalte Winterluft prickelte auf der Haut. Er sah zum Haus zurück, und beim Anblick seiner Fußspuren im Schnee wurde er ruhig. Sie bewiesen, dass er existierte, ebenso wie der Schmerz, den der kalte Schnee in seiner Hand verursachte, während er ihn zu einer Kugel formte und schließlich auf den Schuppen in der Gartenecke warf. Der Schneeball zerbarst, und ein paar Vögel erhoben sich mit lautem Gekrächze hinauf in den wolkenlos blauen Himmel. Trave schämte sich auf einmal. Lag es an Birchers Tod, dass er sich jetzt so lebendig fühlte? Oder daran, dass er lebte, während andere tot und ungerächt waren? Er musste an Katya Osman denken, wie sie ausgestreckt auf dem Bett lag, mit offenen Augen – ohne etwas zu sehen. Als er sich jetzt daran erinnerte, überlief ihn ein kalter Schauer. Er ging zurück ins Haus und schloss die Türe hinter sich.
Es war nicht das erste Mal, dass Clayton seinen ehemaligen Chef traf, nachdem Trave am Tag nach Swains Verhaftung vom Dienst suspendiert worden war. Tatsächlich hatten die Vorfälle an diesem Abend dazu geführt, dass die kurzzeitige Entfremdung der beiden sich in Luft auflöste. Auch drei Monate danach konnte Clayton noch immer nicht verstehen, was da passiert war.
Auf der Rückfahrt zum Revier war Macrae völlig aus dem Häuschen gewesen. »Zwei Fliegen mit einer Klappe«, hatte er ein ums andere Mal gesagt und die Worte dabei fast gesungen. So, als seiTrave genau wie Swain ein Krimineller und nicht das, was er in Wirklichkeit war: ein guter, ehrlicher Polizist, der unter so starkem emotionalen Druck stand, dass selbst der ausgeglichenste Mensch kapituliert hätte. Clayton hatte großes Mitleid mit Trave gehabt, als der mit Swain aus dem Cricket-Pavillon herausgestolpert kam und im grellen Licht der Autoscheinwerfer stand, bloßgestellt vor all den jungen Beamten, die Macrae vom Revier als Verstärkung mitgebracht hatte. Alle hatten Trave abfällig betrachtet und Abstand gehalten, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Alle außer Wale und Macrae. Clayton hatte mitverfolgt, wie der dann bei den Autos in Traves Ohr gezischt hatte: »Es ist aus, Sie armer Irrer. Aus und vorbei.« Trave hatte nichts erwidert, stand nur in sich zusammengefallen da. Jonah Wale hingegen lachte laut. Es war das erste Mal, dass Clayton den Mann lachen hörte. Das war ein animalisches Lachen – dumpf, gemein, grausam, fast schon unmenschlich.
Clayton hatte erwartet, dass sie Swain nach Ankunft im
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