Der König und die Totenleserin3
verzeihen, dass sie die Ruhe ihrer Knochen störte. »Erlaubt Eurem Fleisch und Euren Knochen, mir das zu sagen, was Eure Stimmen nicht mehr sagen können!«
Als sie aufstand, sagte Mansur: »Kannst du es spüren?«
»Was spüren?«
Sie sprachen Arabisch. Das war sicherer, falls irgendwer sie belauschte.
»Wir sind auf heiligem Boden. Das hier ist ein Omphalos.«
Wenn er gesagt hätte, es wäre Mekka, hätte sie nicht verblüffter sein können. Mansur war kein Mensch, der große Inbrunst an den Tag legte. Sie hatte ihn noch nie ehrfürchtig ergriffen erlebt, und schon gar nicht von irgendetwas Christlichem. Seine Miene war so gelassen wie immer, aber dass er in Glastonbury dasselbe Mysterium spürte, das die Griechen dem Nabel ihrer Welt in Delphis dunkler Höhle zugeschrieben hatten, das war höchst ungewöhnlich.
Sie sog die Luft durch die Nase und schaute sich um. Entging ihr irgendetwas? Henry Plantagenet, der ebenfalls nicht leicht zu beeindrucken war, hatte etwas ganz Ähnliches gesagt.
Falls er und Mansur recht hatten, müsste sie eine Schwingung in der Luft wahrnehmen, ein Prickeln im Körper, das von einem der heiligsten Punkte der Welt ausging, einem Ort, an dem die Kluft zwischen Mensch und Gott schmaler war als irgendwo sonst.
Zugegeben, die Landschaft war überwältigend – dramatisch jäh erhoben sich Berge aus der Ebene, als wollten sie die Abtei von hinten schützen, und von der flachen Salzmarsch davor wehte der Geruch des Meeres. Zweifellos war hier ein natürlicher Magnetismus im Spiel, der, lange bevor Christus in diese heimische Heide kam, Menschen dazu gebracht hatte, etwas Übernatürliches zu verehren.
Sie konnte es nicht spüren. Die Sonne brannte ihr auf den Kopf. Vögel zwitscherten, während sie die traurigen Ruinen in Besitz nahmen. Die Junidüfte waren dabei, den Aschegestank zu verdrängen. Erste Wildblumen schoben sich aus verwüsteter Erde. Adelia war Gott dankbar für derlei Segnungen. Aber ein Mysterium? Nicht für sie, die bei jedem Mysterium nach einer Erklärung suchte.
Und sie bedauerte das: Vielleicht lag der Mangel ja in ihr, die Unfähigkeit, sich dem Göttlichen hinzugeben. Ich spüre es einfach nicht.
Sie lächelte zu Mansur hoch, beneidete ihn um eine Verklärtheit, die sie unberührt ließ. »Bist du bereit?«, fragte sie ihn.
»Ich bin bereit.«
Sie gingen gemeinsam in die Hütte.
Durch das locker geflochtene Dach fielen Lichttupfen auf zwei Katafalke, die aus gestapelten, schwarz verrußten Ziegeln bestanden, auf denen zwei lange Steinplatten wie Altäre ruhten. Dazwischen ein langer, wie ein Kanu geformter Sarg, dessen Deckel daneben auf dem Boden lag.
Schweres Tuch bedeckte beide sterblichen Überreste, und irgendwer hatte jeweils an die Kopfenden einen Topf mit Butterblumen hingestellt, eine leuchtend gelbe Gabe der Lebenden an die Toten, die Adelia Tränen in die Augen trieb. Das hier war ein Schrein; es war ihr zuwider, seinen Frieden zu stören.
Sie blieben einen Moment stehen. Von dem Loch, das mal ein Kirchenschiff gewesen war, drang der Gesang der Mönche herüber, und ihre geschulten Stimmen durchbrachen den lieblichen, klaren Klang von Rhys’ Lied, das weiter weg ertönte.
Nach einer ganzen Weile hob Mansur behutsam das Tuch von der größeren der beiden Gestalten. Adelia hörte ihn tief einatmen, und auch sie schnappte nach Luft.
Wem auch immer diese Knochen gehört hatten, im Leben war er gewaltig gewesen, beinahe sechseinhalb Fuß groß – ein Körpermaß, das zu jeder Zeit imposant war und in dunkler Vorzeit ganz sicher Stoff für Sagen und Legenden geboten hatte.
Falls er im Kampf gestorben war, dann von der Hand eines grimmigen Feindes: Der Schädel war eingeschlagen, und von dem Loch liefen Risse in alle Richtungen, als hätte man mit einem schweren Löffel auf ein Ei geschlagen. Er war sofort tot gewesen. Die Rippen, die
sechs
Rippen, waren zerschmettert, gebrochen und von der Brustwand abgerissen.
»Allah gebe, dass er seinen Gegner zum Krüppel gemacht hat, ehe er fiel«, sagte Mansur.
»Wir sollten, wir
dürfen
nicht davon ausgehen, dass er ein Krieger war«, wies Adelia ihn zurecht. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr Freund sich so mitreißen ließ.
»Was sollte er sonst gewesen sein?«
»Vielleicht war es ein Unfall.« Das klang unrühmlich, sogar unwahrscheinlich, aber sie war fest entschlossen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Es schien angemessen, dass das kleinere Skelett eine Frau aufdecken sollte. Adelia
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