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Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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den Tee eingoß und in ihrer Muttersprache zu plaudern begann oder wenn er in einem Konzert zwischen all den abgelenkten und uninteressierten Schwätzern plötzlich ein junges Pärchen entdeckte, das sich aneinanderschmiegte, dann akzeptierte er, gepackt und gebeutelt zu werden wie in einem Anfall tropischen Wechselfiebers. Solche Attacken waren rasch überstanden, die Sonne wärmte ihn von neuem, das Leben hatte ihn wieder.
    Und in diesem Leben erregte ihn auch von neuem das Gefühl, der Kreuzungs- und Knotenpunkt der durch eine Metropole zirkulierenden Informations- und Nachrichtenströme zu sein. Nun gut, Florenz hatte seine große Zeit hinter sich und lag als Markt für politische Handelsobjekte an der europäischen Peripherie, dennoch sah er sich gerne als eine Art Wehr, das die Richtung und Schüttung des Wissens, das über seinen Schreibtisch lief, kontrollieren und regulieren konnte.
     
    Die Liste seiner Verabredungen für den heutigen Tag war lang, die Gespräche würden bis in den Abend hineinreichen. Die Gesandtschaft Wiens war die inoffizielle Schaltzentrale der Stadt und des Großherzogtums, denn der Großherzog selbst, Gian-Gastone, wie er mit vielsagender Respektlosigkeit von jedermann genannt wurde, war eine Katastrophe.
    Theodor empfand eine Schwäche für den dicken, pathetischen und weibischen Schwächling, bei dem man nie wußte, ob es von der Oper oder einem Epheben ausgelöste Tränen der Rührung waren oder eher Weißwein, was ihm
aus den Augen lief und von einem grazilen Jüngling mit einem Spitzentaschentuch abgetupft wurde.
    Theodor hatte sich einen halbernsten Spaß erlaubt und ihm als Antrittsgeschenk ein kleines Golddöschen überreicht, das einen winzigen Schnabel besaß, mit dem die Tränen aufgefangen und gesammelt werden konnten, und stellte bei späteren Besuchen mit einer den Lachreiz streifenden Rührung fest, daß die Dose neben der weichgepolsterten Liege stand, von der der Großherzog sich immer seltener erhob.
    Gian-Gastone zelebrierte die Dekadenz des Letzten, des Vollenders, dessen Tod die Dynastie, die Herrschaft, die Geschichte, die ganze Welt beenden würde, mit einem zwischen Komik und Ernst changierenden Pathos, was Theodor als schauspielerische Leistung eines Naturtalents bewunderte. Er glaubte hinter all dem, was anderen Leuten widerlich war, der bewußten Hemmungslosigkeit, dem Suhlen in Schmutz, Sünde, Sodomie und Kastratengesang, dem wollüstigen geistigen und körperlichen Verwesen bei Lebzeiten, eine Spielart der Ehrlichkeit und des Protestes gegen die menschliche Kondition zu erkennen, zu der ein Mut gehörte, den man erst findet, wenn man alle Sorge um das qu’en dira-t-on überwunden, wenn man die Schutzschilde und Rüstungen abgelegt hat, die für das Leben unter Menschen notwendig sind.
    Ecce homo , dachte Theodor jedesmal beim Abschied zwischen Schaudern und Respekt, aber natürlich war es dennoch anstrengend, eine Stunde mit dem Großherzog zu verbringen, und Theodor ließ sich nicht sehr oft in Versuchung führen.
    Nach all den Jahren protestantisch karger, nüchterner Kommunikation, all den Begegnungen mit Menschen, die immer nur sagten, was sie meinten, und – o heilige Einfalt und Langeweile! – immer meinten, was sie sagten, war es eine hochwillkommene Abwechslung des geistigen Küchenzettels,
wieder Halbwahrheiten und Gemunkel, Klatsch und Verleumdungen, heimlichen Ehrabschneidereien und gezielten Indiskretionen zu lauschen und sie je nach Lust und Laune und ihrem Nutzen für die Belange des Reiches, in extenso oder in kleinen Teilen, verzerrt oder wortgetreu weiterzugeben oder sie als politischen Kreditbrief in der Hinterhand zu behalten und auf Hausse zu spekulieren.
    Erstaunt über sich selbst, bemerkte Theodor, über wieviel Metier er verfügte. Ganz wie ein Schauspieler, der sich von der Bühne zurückgezogen hatte und nach Jahren wieder im Theater steht, den Leim der Kulissen riecht und die Mottenkugeln in den Kostümen, die lächerlichen Eitelkeiten des jugendlichen Liebhaberpaars durchschaut und schon im vorhinein weiß, was daraus werden wird, der eine gewisse Angst nicht unterdrücken kann, vielleicht kein Gedächtnis mehr zu besitzen und eingerostete Kiefer und Gelenke, und dann, sobald der Vorhang sich hebt, feststellt, daß er seine Rollen noch auswendig weiß, daß die Worte ihm aus dem Mund perlen wie klares Wasser aus einer Quelle, daß seine sparsamen, symbolisch-abwinkenden Gesten viel ausdrucksstärker sind, viel tiefer dringen

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