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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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von seiner Ankunft unterrichtet, und er hoffte, sie würde ihn abholen.
    Nachdem er seinen Koffer und ein verschnürtes Paket mit orientalischen Mitbringseln auf den Bahnsteig gewuchtet hatte, suchte er in der Menge nach seiner Mutter. Um ihn herum küssende, freudig erregte Menschen, Menschen in Umarmung, Hände schüttelnd. Gut zehn Minuten hielt er vergeblich Ausschau nach einem bekannten Gesicht, dann rief er einen Kofferträger herbei: »Zu den Droschken!«
    London empfing ihn mit einem strahlend blauen Frühlingshimmel. Es kam ihm vor, als habe sich die Stadt extra für ihn herausgeputzt. Staub und Schmutz, die ständigen Begleiter der vergangenen Jahre, schienen wie weggefegt. Und selbst die Pferde der Droschkenkutscher, denen in Luxor und Kairo stets ein bestialischer, beißender Gestank anhaftete, verbreiteten hier angenehme Gerüche wie auf dem Rennplatz von Ascot.
    »Rich Terrace 10, bitte!« Carter entlohnte den Kofferträger und bestieg einen schwarzen Phaeton.
    Der Kutscher wiederholte die Adresse, nickte freundlich und gab seinen Pferden die Zügel. Nachdem er von der Buckingham Palace Road in die Grosvenor Gardens abgebogen war, drehte er sich auf dem Kutschbock um und fragte freundlich: »Waren auf Reisen, der Herr?«
    Carter nickte. »Ägypten. Luxor, Kairo, Alexandria.«
    »Großer Gott!« rief der Kutscher. »In den Kolonien! Afrika!«
    »Naja!« Howard lachte. »Eigentlich ist Ägypten keine britische Kolonie.«
    »Nein?« Der Kutscher war erstaunt. »Aber die Zeitungen sind voll von den Erfolgsmeldungen Lord Kitcheners. Es heißt, er kommandiert die ägyptische Armee.«
    »Schon richtig«, antwortete Carter, »trotzdem sollten Sie nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. Achten Sie lieber auf den Verkehr, Mister.«
    Wohlbehalten erreichten sie Rich Terrace. Obwohl mitten in Kensington, einem der vornehmsten Stadtteile Londons gelegen, machte die Gegend einen eher provinziellen Eindruck. Schmale zweistöckige Häuser waren an- und ineinandergeschachtelt, und wie nicht selten in dieser Stadt, glich ein Gebäude dem anderen zum Verwechseln. Nummer 10 machte da keine Ausnahme, sah man davon ab, daß die ursprünglich weiße Farbe sich längst in ein trübes Grau verwandelt hatte.
    Howard betätigte die Hausglocke, und nachdem niemand öffnete, machte er sich durch heftiges Klopfen bemerkbar. Lange Zeit geschah nichts. Endlich erschien Martha Carter in der Türe. Howard erschrak. Es war gegen Mittag, aber seine Mutter trug einen abgetragenen Schlafrock. Offensichtlich hatte sie noch keine Zeit gefunden, sich anzuziehen. »Ach, du bist’s«, sagte sie ohne größere Anteilnahme, »ach, du bist’s«, als hätten sie sich gestern zuletzt gesehen.
    Immerhin fragte sie, nachdem Howards Versuch, seine Mutter zu umarmen, mißlungen war: »Hattest du eine gute Reise, mein Junge?«
    »Ja«, antwortete Howard, »wenn man von den Strapazen absieht, die eine viertägige Schiffsreise von Alexandria nach Genua, eine Eisenbahnfahrt durch Frankreich und die Überfahrt von Calais nach Dover verursacht. Ehrlich gesagt bin ich hundemüde.«
    Darüber hinaus verspürte er Hunger, weil er sich auf der beschwerlichen Reise nur von Reiseproviant und Kleinigkeiten ernährt hatte, die von fliegenden Händlern angeboten wurden. Aber Martha Carter bot ihm nur einen Tee an. Howard hatte erwartet, daß seine Mutter ihn mit Fragen bestürmen würde, wie es denn gewesen sei in Ägypten. Aber dies unterblieb, und eigentlich war er ganz froh darüber, denn er hatte nicht vor, den wahren Grund seiner Rückkehr preiszugeben.
    In dem Haus, das er seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte, schien alles unverändert, und doch machte sich ein seltsames Gefühl breit, als würde es von fremden Menschen bewohnt. Howard hatte gerade sein Gepäck in das Zimmer im oberen Stockwerk gebracht, wo schon die älteren Brüder Samuel, Vernet und William ihre Kindheit verbracht hatten, da vernahm er die Stimme seiner Mutter. Sie war seit geraumer Zeit in der Küche im Erdgeschoß mit dem Teekochen beschäftigt.
    Zuerst glaubte er, seine Mutter führe eine angeregte Unterhaltung, aber dann erschrak er, weil er hörte, wie Martha Carter nach seinem Vater rief: »Dein Sohn ist hier, Samuel, willst du nicht herunterkommen?« Und nach einer kurzen Pause: »Er ist aus Ägypten zurück. Du mußt ihn dir anschauen.«
    Howard hielt sich am Geländer fest. Er wagte nicht, nach unten zu gehen. Sein Vater Samuel war seit drei Jahren tot.
    »Samuel!«

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