Der König von Luxor
hörte er seine Mutter rufen. »Du nimmst doch mit uns den Tee? Wie immer mit Milch, ohne Zucker. Wie geht es dir heute morgen, Samuel? Endlich wird es doch noch Frühling. Hast du schon einen Blick aus dem Fenster geworfen? Die Forsythien auf der anderen Straßenseite tragen schon die ersten Knospen. Du solltest sie einmal malen, wenn es dir wieder besser geht. Hörst du, Samuel?«
Nachdem es längere Zeit ruhig geblieben war, wagte sich Howard nach unten. Mit Bestürzung stellte er fest, daß seine Mutter auf dem schmalen Küchentisch drei Teetassen gedeckt hatte. Wie sollte er sich verhalten?
Martha Carter nahm ihm die Antwort ab, indem sie, weil sie seinen unsicheren Blick wahrnahm, erklärte: »Deinem Vater geht es heute nicht besonders gut. Er hat es auf der Lunge. Aber er wird schon noch herunterkommen.«
Verständnisvoll nickte Howard mit dem Kopf. »Und Fanny und Kate, wie geht es denen? Sie sind doch gesund?«
Die Mutter lachte. »Ach die! Denen geht es besser als jedem Stadtbewohner. Ich habe das Weihnachtsfest bei ihnen in Swaffham verbracht. Dein Vater schickte mich zu ihnen, damit ich wieder einmal ein bißchen rauskomme.«
»Ich will sie gleich in den nächsten Tagen aufsuchen. Fanny und Kate werden überrascht sein. Sie wissen nicht von meiner Rückkehr.«
Ziellos irrte Howard zwei Tage durch London. Von seiner Schwester Amy, die den Verleger John Walker geheiratet hatte, erfuhr er, daß die Mutter unter temporärem Realitätsverlust litt, einem der häufigsten Gebrechen jener Tage, daß sie aber die meiste Zeit völlig normal war und kein Anlaß zur Sorge bestand. Im übrigen hielt er auf seinen Streifzügen durch London nach Sarah Jones Ausschau.
Das war natürlich wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und schon bald wurde Howard eines klar: Wenn es eine kleine Hoffnung für ihn geben sollte, Sarah jemals zu finden, dann mußte er an den Ort zurückkehren, wo sie zuletzt gelebt hatte – nach Swaffham.
Fanny und Kate nahmen Howard mit großer Herzlichkeit auf. Für sie war er noch immer ihr großer Junge. Anders als seine Mutter zeigten sie reges Interesse für sein berufliches Fortkommen, und Howard mußte ihnen stundenlang von seinen ägyptischen Abenteuern in Luxor und Tell el-Amarna erzählen. Fürs erste gaben sie sich mit dem Bescheid zufrieden, er wolle nur einen längeren Urlaub in England verbringen.
Auf der Suche nach Sarah Jones begab sich Carter zur Dame-school und traf dort auf ein älteres Ehepaar, dem man den verarmten Adel ansah. Lady Langton und ihr Mann Lord Horatio hatten sich in Schulden gestürzt und das Schulhaus von Miss Jones übernommen – zu einem honorigen Preis, wie sich die Lady ausdrückte. Auf Howards Frage nach Miss Jones’ Familienstand antwortete sie, nein, verheiratet sei Sarah Jones nicht gewesen – höchst erstaunlich bei ihrem einnehmenden Wesen. Aber es habe da eine unglückliche Liebschaft gegeben, und Miss Jones habe dies zum Anlaß genommen, Swaffham den Rücken zu kehren. Soviel ihnen bekannt sei, habe sie sich in London angesiedelt. Warum er das alles wissen wolle?
Er sei, antwortete Carter, diese unglückliche Liebschaft. Mit Absicht verschwieg er, daß er Sarahs Schüler gewesen war.
In seiner Verfassung war Swaffham wirklich nicht der ideale Aufenthaltsort. Die Erinnerung an Sarah lebte in jeder Straße, in jedem alten Gebäude auf. Wohin er auch blickte, alles verursachte jenen ziehenden Schmerz in seinem Herzen, den man Sehnsucht nennt. Diese Sehnsucht war es auch, die ihn wie einen streunenden Hund durch die Straßen trieb, mutlos, verzweifelt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Nach zwei Tagen, die sich ereignislos dahinschleppten, kam ihm der Gedanke, bei Mr. Hazelford im »George Commercial Hotel« ein Ale zu trinken und, eher beiläufig, Erkundigungen einzuziehen nach Miss Jones’ Verbleib.
Das Ale gab dem Fall insofern eine Wendung, als Mr. Hazelford, der Howard mit großer Freundlichkeit begegnete, ihm erzählte, Chambers habe mit Miss Jones Swaffham verlassen, um in London zu heiraten. Aber vielleicht wisse Chambers’ Nachfolger, der neue Organist von St. Peter und Paul, ein gewisser Mr. Spurell, mehr.
Carter fand Spurell in einem heruntergekommenen Haus an der Norwich Road nahe dem Manor House, wo er unter dem Dach ein kleines Zimmer bewohnte. Er war jung, gerade halb so alt wie Chambers, und im Gegensatz zu diesem eine sympathische Erscheinung. Seinem anfänglichen Mißtrauen begegnete Carter
Weitere Kostenlose Bücher