Der König von Luxor
Luxor, um Lord Carnarvon abzuholen. Der trübe Herbst und das Bewußtsein, daß Seine Lordschaft mit dem Ergebnis seiner Arbeit während des großen Krieges nicht zufrieden sein konnte, drückte auf seine Stimmung.
Früher, vor dem Krieg, war man in Luxor nur selten einem Bettler begegnet, aber nun drängten sich auf dem Bahnhofsvorplatz zerlumpte Männer und Frauen mit wirren Haaren und kleinen Kindern im Arm und streckten jedem, der sich ihnen näherte, die hohle Hand entgegen. Howard, wie stets äußerst vornehm gekleidet und mit einem Panamahut auf dem Kopf, konnte sich des Bettelvolkes kaum erwehren. Er war kein Unbekannter in Luxor, und jene, die ihn nicht um Geld angingen, bettelten um Arbeit. Es herrschte Hungersnot, und die meisten Männer waren bereit, sich für einen einzigen Piaster am Tag zu verdingen.
Als Carter den Bahnhof durch den vorderen Eingang betrat, nahm er eine beklagenswerte Gestalt wahr, einen verkommenen Mann, in einen Sack gekleidet, mit einem Korb um den Hals und Armstümpfen, die knapp unter den Schultern endeten. Howard zögerte, dem Beklagenswerten ein Almosen in den Korb zu werfen, da hielt er entsetzt inne. Verschämt wandte sich der Krüppel zur Seite.
»Sayyed?« fragte Carter tonlos.
»Carter-Effendi«, entgegnete der Krüppel und blickte zu Boden.
Howard schüttelte den Kopf, er glaubte zu ersticken, so schockierte ihn Sayyeds Anblick.
Als wollte er sich entschuldigen oder um Nachsicht bitten für seine abschreckende Erscheinung, hob Sayyed die Schultern. Dabei hüpften seine Armstümpfe in die Höhe wie die nackten Flügel eines jungen Vogels, der noch im Flaum steht. »Mahschallah«, sagte er mit gespieltem Gleichmut und versuchte sich ein Lächeln abzuringen – wie Gott will.
Carter trat einen Schritt zur Seite, um den Weg freizugeben. »Wie ist das passiert?« fragte er verlegen. Passendere Worte fielen ihm im Augenblick nicht ein.
»Ein Paket mit Sprengstoff!« Sayyed grinste verbittert. »War für Ali gedacht.«
»Ja und?«
»Ali gab es mir zum Öffnen. Er muß etwas geahnt haben.«
»Der Schweinehund.«
Sayyed nickte und betrachtete links und rechts seine Armstümpfe. »Unglück trifft immer die Kleinen. Die Großen bleiben ungeschoren.«
»Sagt Ali.«
»Nein, Carter-Effendi. Sagt Sayyed. Der Krieg hat mich klüger gemacht. Man muß nicht alles nachplappern, was die Oberen vorsagen.«
»Dann bist du kein Nationalist mehr, wenn ich dich recht verstehe?«
»Nein, Carter-Effendi. Sayyed ist ein ganz gewöhnlicher Ägypter, mehr nicht.« Er blickte verschmitzt, so, wie man es früher von ihm gewohnt war. Dann fügte er hinzu: »Aber auch nicht weniger.«
Gerührt kämpfte Howard mit den Tränen. »Und wovon lebst du jetzt, Sayyed? Ich meine, die Zeit…«
»Sie meinen, die Zeit der Diebereien ist vorbei. Sagen Sie es ruhig, Carter-Effendi. Ohne Arme und Hände ist es verdammt schwer. Aber ich habe ja noch meinen Kopf. Vielleicht findet sich jemand, dem mein Kopf von Nutzen ist. Im übrigen habe ich ja noch meine Brüder, die sich um mich sorgen.«
Howard dachte nach. Nach einer Weile meinte er: »Dein Kopf kann mir von Nutzen sein. Willst du für mich arbeiten?«
»Mit dem Kopf?« Sayyed machte ein ungläubiges Gesicht.
»Mit dem Kopf«, erwiderte Howard. »Ich brauche einen Botengänger. Sagen wir fünf Piaster am Tag. Einverstanden?«
Weil er keine Möglichkeit hatte, Carters Hand zu ergreifen, bückte der junge Mann sich tief, um seine Hand zu küssen. Doch Howard zog, als er Sayyeds Absicht erkannte, seine Hand zurück. »Ich zähle auf dich«, meinte er, schon im Gehen. Sayyed lächelte.
Der Zug aus Kairo lief mit angemessener Verspätung ein, und Howard schwenkte den Hut, als er den Lord am Fenster seines Abteils erkannte.
»Willkommen in Oberägypten, Mylord!« rief er Carnarvon entgegen, als dieser in der Zugtüre erschien. Der Lord war alt geworden, seit er ihn vor dem Krieg zuletzt gesehen hatte. Lady Almina hingegen, die hinter ihrem Mann aus der Türe trat, wirkte frisch, beinahe jugendlich.
Aber dann geschah etwas, womit Carter nicht gerechnet hatte und was ihm die Sprache verschlug. Hinter ihrer Mutter tauchte das Gesicht eines wunderhübschen Mädchens auf, Carnarvons Tochter Evelyn.
Obwohl zehn Jahre vergangen waren, hatte Howard die Szene noch gut in Erinnerung, als das kleine Mädchen auf der Terrasse des Hotels »Winter Palace« seine Hand ergriff und fragte: Bist du traurig, Mr. Carter? Er hatte damals gerade vom Tod Lord
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