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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Zeitschriften kannte.
    Durch das Fenster gegenüber drang kaum Licht. Es war mit grauem Stoff verdunkelt. Rechter Hand, gegenüber dem Elefantenfuß, entdeckte Howard eine Standuhr, die ihn gewiß um zwei Köpfe überragte. Allein das Messingpendel hatte eine Länge von neunzig Zentimetern. Als Carter an die Glastüre klopfte, nahm das Uhrwerk wie von Geisterhand bewegt seinen Gang wieder auf, und im nächsten Augenblick erklangen vier Gongschläge von Westminster, dann war es wieder still.
    Sarah Jones schüttelte den Kopf. »Das ist der Glockenschlag, den ich noch eine Woche nach dem Tod der Baronin zur Nachtzeit gehört habe. Ich hatte schon an meinem Verstand gezweifelt.«
    Carter begriff nicht, was Miss Jones an dem Glockenschlag so bewegte. Er bekam kaum noch Luft in dem stickigen Zimmer. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich versuchen, das Fenster zu öffnen«, meinte er fragend, und ohne Sarahs Antwort abzuwarten, begann er, den Stoff vom Fensterrahmen zu reißen, an dem er mit Reißzwecken befestigt war. Das verursachte so viel Staub, daß Carter und Miss Jones sich beinahe die Lunge aus dem Leib husteten.
    Das Fenster klemmte, als wäre es schon viele Jahre nicht mehr geöffnet worden, und Howard mußte alle Kraft aufbieten, bis der rechte Flügel endlich nachgab; danach gelang es ihm, auch den linken zu öffnen. Prustend und hustend sog er die frische Sommerluft tief in seine Lunge. Mit dem Ärmel wischte er sich die Augen trocken, dann wandte er sich um und fragte: »Miss Jones, was hat das zu bedeuten?«
    Sarah umrundete zum zweiten Mal den Schreibtisch in der Mitte des Zimmers und musterte jede Einzelheit, ohne irgend etwas zu berühren. »Wenn ich das wüßte«, erwiderte sie endlich. »Aber es soll ja Menschen geben, die nach dem Tod eines geliebten Wesens alles so belassen, als wäre der oder die Betreffende noch am Leben. Die Pantoffeln des Barons, seine Pfeife, das Whiskyglas, all das könnte ein Hinweis darauf sein.«
    »Vor allem die Zeitung!« Carter trat an den Schreibtisch und betrachtete die aufgeschlagene Seite. »Was glauben Sie, Miss Jones, welches Datum die Zeitung trägt?«
    »Gewiß nicht das Datum von gestern!« scherzte sie. Allmählich begann sie sich von dem Schreck zu erholen.
    »Nein!« Howard lachte. »Die Zeitung ist beinahe fünfzehn Jahre alt. Hier, 16. September 1875. Miss Jones, da war ich nicht viel älter als ein Jahr!« Dabei hielt er die flache Hand in Kniehöhe über den Boden.
    »Vermutlich ist Baron von Schell im Jahre 1875 gestorben. Und das bedeutet…«
    »…daß die Baronin tatsächlich alles so belassen hat. Sehen Sie nur!«
    Jetzt erkannte auch Miss Jones, daß in dem Glas noch ein Rest Whisky funkelte. »Mein Gott«, murmelte sie und hielt die Hand vor den Mund. »Mir scheint, die Baronin brachte ihrem toten Mann sogar regelmäßig Whisky und frische Blumen. Und sie vergaß auch nicht, die Uhr aufzuziehen. Sonst hätte sie nicht noch eine Woche lang geschlagen und mich beinahe zum Wahnsinn getrieben.«
    »Warum tut man so etwas?« Mit verschränkten Armen lehnte sich Carter ans Fensterbrett.
    »Die Baronin ist mit dem Tod ihres Mannes einfach nicht fertig geworden.« Sarah blickte lange auf das Gemälde an der Wand. »Ich habe sogar den Eindruck, daß sich ihr Äußeres im Laufe der Jahre immer mehr dem Erscheinungsbild des Barons angeglichen hat.«
    Howard musterte das Porträt. »Sie haben recht, Miss Jones. Man könnte in dem Gemälde wirklich die Gesichtszüge der Baronin erkennen. Seltsam.«
    »Ja, es ist eine merkwürdige Erscheinungsform menschlichen Zusammenlebens: alternde Ehepaare, die ein Leben lang zusammen verbracht haben, gleichen sich nicht nur in ihren Gewohnheiten und Bewegungen an, nicht selten nimmt einer das Aussehen des anderen an. Hast du das noch nie beobachtet?«
    »Ehrlich gesagt nein.«
    Ein leichter Luftzug wehte zum Fenster herein, und Carter ging zur Türe, um sie zu schließen. »Haben Sie das schon gesehen, Miss Jones?« rief er aufgeregt.
    Die offenstehende Türe hatte bisher den Blick auf eine Statue aus weißem Marmor verwehrt. Sie stand auf einem halbhohen Sockel, war kaum höher als neunzig Zentimeter und stellte eine nackte Göttin dar, die mit beiden Armen schamhaft ihre Blößen bedeckte. Carter hatte ein solches Kunstwerk noch nie aus der Nähe gesehen.
    »Wie schön sie ist«, bemerkte Sarah, in den Anblick der Statue versunken.
    »Wie alt sie wohl sein mag?«
    Sarah Jones schob ihre Unterlippe vor, ein Zeichen,

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