Der König von Sibirien (German Edition)
noch nicht vergessen zu haben. Bild für Bild konnte er abrufen, falls es erforderlich war, und sich dadurch in eine Stimmung versetzen, die ihm angst machte. Angst vor der Konsequenz des Umsetzens.
Alexander, dessen dreizehiger Fuß keine Probleme mehr bereitete, lernte auf einem Ren, die trächtigen Muttertiere hatte man von der übrigen Herde getrennt, zu reiten. Zuvor hatte er das Vertrauen des Tieres zu gewinnen, und das ging nur über die Neugier. Sobald er etwas Fremdes in Händen hielt, kam es näher und schnupperte.
Der Rhythmus eines Rens war ungewohnt für ihn, und die kurzen Laufschritte brachten seinen Körper zum stetigen Wippen, als sauste er über ein riesiges Waschbrett.
Dann, inzwischen waren die im März geborenen Jungtiere kräftig genug, war allgemeines Packen. Die Zelte wurden abgebrochen, der gesamte Hausrat mitgenommen und auf Rentiere und
Schlitten verladen. Weiter in den Norden sollte es gehen bis zur Einmündung des Flusses Anabar in das Eismeer.
Alexander zog mit ihnen, obwohl er wusste, seine Zeit war bald vorbei. Er hatte Monate bei den Ewenken verbracht und war ihnen für die Pflege dankbar. Aber sein Ziel Tag nicht in Richtung Eismeer, er wollte in den Süden, nach Mittelsibirien, vielleicht sogar an die Lena, mitten in das Herz des Landes.
Für die Nacht schlugen die Ewenken immer ein provisorisches Lager auf, um am nächsten Tag schon früh mit ihrer Herde aufzubrechen. Die Frauen waren für den Transport aller Gegenstände verantwortlich, die Männer kümmerten sich um die Tiere.
Nach gut einer Woche errichteten die Ewenken ein stabileres Zwischenlager, und hier verabschiedete sich Alexander von ihnen. Er bedankte sich und Urnak schenkte ihm ein Ren.
"Es braucht nichts, außer Wasser und etwas Moos. Es wird dir dankbar sein, wenn du es gut behandelst. Musst du es töten, dann tue es schnell. Und verspeise es ganz, dann fühlt es sich geborgen."
Alexander wurde mit Essbarem und mit Kleidung versorgt, auch weiche Stiefel und einen Mantel, der bis zu den Waden reichte. Urnak händigte ihm seine persönlichen Dinge aus, die er, als man ihn gefunden hatte, bei sich trug. Darunter auch der Ausweis von David Delkowitsch, das Geld und die Pistole von Pagodin. Nachdenklich betrachtete Urnak die mattglänzende Waffe.
Tarike begleitete ihn ein Stück, hinter den beiden trottete an einer Leine das mit Lebensmittel und anderen Dingen bepackte Ren.
»Schade, dass du gehst. Ich mag dich."
Alexander wurde verlegen. Oft hatte er das Verlangen gehabt, mit ihr zu schlafen. In den ersten Nächten, als er nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte, hatte sie sich sogar neben ihn gelegt, um ihn zu wärmen. Später dann wollte er nicht die Gastfreundschaft der Nomaden missbrauchen.
»Ich mag dich auch.«
»Warum bleibst du dann nicht?«
»Ich warte nicht auf das Leben, ich gehe ihm entgegen.« Oder laufe ich vor ihm davon?
»Bei uns kann es auch schön sein.«
»Ich weiß. Ich habe es kennen und schätzen gelernt.«
»Gefalle ich dir nicht?«
Tarike blieb stehen. Nun ahnte Alexander auch, warum sie ihn begleitete. Sie schämte sich, solche Worte in Anwesenheit der übrigen Dorfbewohner zu gebrauchen.
»Doch, du gefällst mir.« Und sie gefiel ihm wirklich. Ihr Gesicht mit der kleinen Nase, nicht breit, nur klein. Und die braunen Augen waren von einer Wärme, wie er noch nie welche gesehen hatte, und ohne jede Berechnung.
»Bitte, bleib.«
Alexander schüttelte den Kopf. »In mir ist eine ... eine Landkarte, die mir den Weg vorgibt und mich zwingt, ihm zu folgen. Ich muss einfach.«
Tarike senkte den Kopf. »In meinem Zelt gebe ich dir eine neue Landkarte. Sie wird dich zwingen, mir zu folgen.« Sie strich sich mit den Händen über die Hüften.
»Tarike, ich kann meine Welt nicht abschütteln. Ich bin auch nicht so gläubig wie Yokola. Bitte, lass mich gehen.«
Tarike legte kurz ihren Kopf an Alexanders Brust, sah ihn noch einmal an, drehte sich um und eilte zurück ins Lager.
Alexander kam sich undankbar vor, denn sie hatte ihn aufopferungsvoll gepflegt und war stets für ihn dagewesen. Nur über eines war er froh: Dass er etwas für sie empfand, und dass offenbar noch nicht alle Gefühle tief im Innern eingemauert waren.
Aber er machte sich etwas vor, denn in Zukunft sollte sein Leben nur noch ohne Gefühle ablaufen, auch gegen sich selbst. Gefühle, das war Ballast, bedeutete Einengung und Abhängigkeit. Genau das wollte er nicht: weder abhängig noch
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