Der König von Sibirien (German Edition)
Regeln unseres Volkes zu bewähren.«
»Nein.« Nikolai sprang auf. »Das lasse ich nicht zu.«
»Dann werden wir gegen ihn kämpfen. Er«, Geriak deutete nun auf Alexander, seine Hand zitterte, »er ist nur Gast in unserem Land, genauso wie du.«
Nikolai stützte sich auf den Tisch. Am Hals schwollen seine Adern an, nur mühsam konnte er sich beherrschen. »Ist das der Dank für all das, was ich für euch getan habe?«
»Dafür haben wir dich geduldet. Du durftest das alles tun.«
Nikolai explodierte beinahe. Abermals war es Alexander, der die Anspannung dämpfte und der Situation ihre Schärfe nahm.
»Was besagen eure Regeln?«
»Wer Führer der Jakuten sein will, der muss sich bewähren.« »Was habe ich zu tun?«
»Zu kämpfen.«
»Gegen einen anderen Herausforderer?«
»Ja.«
»Nein«, verbesserte der Ältere. »Die Regeln besagen, der Bessere wird von uns anerkannt, aber nicht im Kampf Mann gegen Mann.«
»Wer ist der andere?« Etwas Lauerndes war in Nikolais Stimme, als er das in Erfahrung bringen wollte. »Ist es Gogols Sohn?«
Die Jakuten antworteten nicht. Sie standen auf und gingen hinaus, ohne sich zu verabschieden.
»Natürlich ist es Jewgenij. Sein Vater, der verdammte alte Schuft, steckt dahinter. Er hat die Jakuten aufgewiegelt. In diesem alten Brauch sieht er die einzige Möglichkeit, mit Unterstützung der Jakuten seinen Sohn doch noch in eine bessere Position zu bringen und dadurch mir und dem Bund Schaden zuzufügen. Ohne Billigung der Jakuten läuft in diesem Land nichts. Und glaube mir eines: Die Kerle können verdammt stur sein.«
»Was ist ein Sam?«
Nikolai stellte sich ans Fenster und schaute hinaus in die Nacht. »Eine Art Führer, das weltliche Gegenstück zu den Schamanen. Dem Rang und der Bedeutung nach ist der Sam für die Jakuten ein König. Die Überlieferung besagt, dass er als einziger den Seelenkreis der Schamanen und den Rat der Yen Kils, so nennt man die Führer der einzelnen Stammesgruppen, einberufen darf. Geriak ist der mächtigste von ihnen.«
Nikolai, der seinen gesundheitlichen Zustand ignorierte, erregte sich zusehends, während er auf die Historie und die überlieferten Bräuche der Jakuten einging. Wie ein gereiztes Tier schlich er im Wohnzimmer umher. Gogol sähe seinen Einfluss schwinden, knurrte er, wenn Alexander Sprecher würde. Aber Gogol müsse darauf achten, auch weiterhin genügend Macht zu haben, sonst liefen ihm die Geschäfte davon, und seine Leute, die Gruka, orientierten sich anders. Die hätten ein feines Gespür für solche Entwicklungen, denn nur der Starke sei gefragt.
Alexander lernte wieder einmal einen Teil Sibiriens kennen, den er nicht verstehen konnte. Mitten im zwanzigsten Jahrhundert bestanden die Jakuten auf der Erfüllung eines steinzeitlich anmutenden Rituals.
»Schon mein Vorvorgänger musste sich diesem Quatsch nicht mehr unterwerfen«, erboste sich Nikolai. »Gut, damals verbot man von Moskau aus die traditionellen Überlieferungen und diktierte den Jakuten alles. Aber inzwischen hat sich vieles geändert. War schicken Astronauten in den Weltraum, die Jakuten sehen täglich fern und wissen, was in anderen Ländern geschieht, und nun kommen sie mit diesem alten Unsinn. Ich sage dir, die Kerle spinnen. Haben sie nach Alkohol gerochen?«
Alexander ging nicht auf die Frage ein. »Sag mir, wie die Regeln lauten.«
»Du willst doch wohl nicht nachgeben?«
»Was geschieht, wenn ich mich weigere?«
Nikolai setzte sich Lange massierte er sein Kinn. Nachdenklich geworden, starrte er vor sich auf den Teppich.
»Alles nur Vermutungen«, begann er. »Wie es wirklich sein wird, weiß niemand. Aber etwas ohne Zustimmung der Jakuten zu unternehmen, die zunehmend auf ihre Rechte pochen, auf den autonomen Status verweisen und mehr und mehr Nationalstolz zeigen, ist heute nicht mehr möglich.«
»Die beiden vorhin Sind sie wirklich so angesehen? Sprechen sie tatsächlich für ihr Volk?«
»Ja, sagte ich bereits. Geriak, der Jüngere, wird auch schon vierzig sein oder mehr, kommt direkt aus Jakutsk. Du kennst ihn ...« Nikolai hüstelte. »Er ist der prominenteste der Uhreinwohner, derjenige mit dem größten Einfluss. Sie hören auf ihn, und er ist sich als Yen Kils seiner Stellung bewusst. Sogar die Russen in der Verwaltung gehen ihn um Rat an. Nicht, weil er es besser weiß, sondern um ihn einzubinden und dadurch sein Volk ruhig zustellen.« Nach wenigen Sekunden, in denen Nikolai verschnaufte, fuhr er fort: »Noch etwas musst du
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