Der Königsschlüssel - Roman
angestrichen. Für jeden Bewohner stand eine bemalte, lächelnde Tonfigur neben dem Eingang, und an manchen Türen hingen geflochtene Strohkränze, die angeblich Glück brachten.
In jedem Dorf hörten sie sich nach dem Vogel um, denn allein auf Serpem und den Raumgeist wollten sie sich nicht verlassen. Die Leute erzählten ihnen einiges über die Klippengeier, von ihrem unbändigen Hunger oder der Kälte ihres Flügelschlags.
Und auch davon, wie die Klippengeier in den letzten Jahren immer öfter in die Siedlungen der Menschen kamen und dort Dinge verwüsteten oder Tiere rissen.
»Früher haben sie das nicht getan«, erzählte eine alte Bäuerin, die schon ganz faltig im Gesicht war und bei der sie Rast machten. Die Alte saß vor ihrem Haus und rauchte Pfeife. »Im Sommer die langen Dürreperioden und nun noch die Klippengeier. Das sind schwierige Zeiten für die Bauern.« Sie nickte mehrmals. Dann schenkte sie Cephei ein Paar Schuhe von ihrem verstorbenen Sohn, weil ihr das Loch in seiner Sohle aufgefallen war.
Aber einen Vogel mit Schlüssel hatte auch sie nicht gesehen, worüber sie erleichtert war.
Erst am Ende dieser Woche trafen Cephei und Vela schließlich doch noch auf einen Mann und ein Mädchen, die den Vogel erst vor kurzem erblickt haben wollten.
Der Mann war ein betrunkener Alter ohne Haare und mit wässrigen Augen und schmalen Wangen, der in seinem Leben sehr viel gesehen zu haben schien. Drachen, Trolle, schöne
Frauen, rennende Häuser, flammende Büsche, sprechende Steine und noch viel mehr schöne Frauen. Und eben jenen riesigen Vogel, nach dem »die lieben Kinder sich so artig erkundigten« .
Sie wussten nicht, ob sie seinen trunkenen Worten glauben sollten. Auf keinen Fall konnten sie warten, bis er nüchtern war; er trug noch eine halbvolle Flasche Drachenbrand mit sich herum.
Das blond gelockte Mädchen schien ein wenig jünger als Cephei zu sein und hieß Sandheen. Sie beobachtete den ganzen Tag den Himmel, weil sie auf die Ankunft eines Gottes wartete, der auf einem riesigen fliegenden Teller erscheinen sollte, wie ihre Eltern ihr erzählt hatten.
»Er wird uns von unserem Leid erlösen und Reichtum und Glückseligkeit bringen«, lächelte sie schüchtern und sah zu Boden. »Aber weil es ein bisschen langweilig ist, auf einen fernen Gott zu warten, der vielleicht erst in hundert Jahren kommt, weil hundert Jahre für einen Unsterblichen ja fast nichts sind, beobachte ich lieber die Vögel, die über unser Haus fliegen.«
Vela nickte aufmunternd, und Sandheen machte hektisch ein Zeichen in die Luft und duckte sich, als würde sie gleich der Blitz treffen. »Also habe ich auch den riesigen Klippengeier gesehen, der nach Süden geflogen ist und etwas Glitzerndes in den Krallen hielt.«
»Die spinnt«, stellte Cephei fest, als sie sich verabschiedet hatten.
»Ja, aber sie beobachtet den ganzen Tag den Himmel«, warf Vela ein. Sie vertraute dem Mädchen, denn es erinnerte sie an ihre Mutter. »Auf jeden Fall war sie nüchtern und hat etwas Glitzerndes in den Krallen erkannt.«
Also folgten sie weiterhin an jeder Kreuzung dem Raumgeist.
Mit jedem Tag schien es wärmer zu werden, dennoch schafften sie große Wegstrecken. Sie durchquerten die schmale, doch gefährliche Feuersteppe, wo nichts wuchs und brennende Büsche im heißen Wind umherrollten und den Boden aufheizten, und wo sich Cephei eine Blase am Hintern holte, weil er sich unvorsichtig auf einen heißen Felsen setzte.
Zum Glück begegnete ihnen am Rand der Feuersteppe ein Händlerzug, der sie ein Stück des Weges mitnahm. Die Pferde waren klein und zäh. Cepheis Füße streiften fast den Boden, als er auf einem der Tiere saß und hin und her wackelte, aber das war allemal besser, als zu Fuß zu gehen.
Sie begleiteten die Karawane bis zu den Ausläufern des Säulenwalds, dessen Bäume dicke gerade Stämme besaßen und deren Zweige erst in vielen Schritt Höhe riesige gezackte Blätter trugen. Dort bog die Karawane nach Osten ab, während sich Cephei und Vela nach Süden wandten. Den Raumgeist ließen sie in den Tagen, in denen sie mit der Karawane zogen, in seiner Kiste, damit die Händler nicht merkten, dass sie sich der Hexenkunst bedienten. Das hätte übel enden können, mitten in der Wildnis und ohne Schutz.
Zwei Tage folgte ihnen ein neugieriges Wasserkalb und bettelte immer wieder um Essen. Sie hatten selbst kaum etwas, aber Vela gab ihm dennoch ein wenig ab, und Cephei brachte es nicht über sich, mit dem Dolch nach
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