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Der Königsschlüssel - Roman

Der Königsschlüssel - Roman

Titel: Der Königsschlüssel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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Lider wurden schwer, und nachdem sie sich einmal geschlossen hatten, brach der Bann, und alles, was sie gesehen hatte, verblasste, selbst die Erinnerung daran. Langsam öffnete Vela wieder die Augen, und erst jetzt erfasste sie das gesamte Bild, das sich ihr bot.
    Die spiegelnden Augen gehörten zu einem Gesicht, das nicht menschlich war, aber auch nicht nur tierisch schien. Lang war es, wie der Kopf einer Schlange, mit einem großen Maul, an dessen Seite Eckzähne hervorragten. Das Maul war leicht geöffnet, und die Zunge hing heraus, hechelte wie die eines Hundes im Sommer.
    Der Körper war zusammengerollt, doch sie konnte dennoch erkennen, wie riesig und schuppig er war. Und da waren auch zusammengefaltete Flügel, die eng am Körper anlagen. Das Wesen sah aus wie eine riesige geflügelte Schlange, und seine Farbe passte sich den Felsen an. Es sah zu ihr herauf und bewegte sich leicht, so dass sie aufkeuchte und zurückwich, aber sie konnte den Blick nicht von ihm lösen. Nun sah sie auch, dass die Kreatur vier Gliedmaßen besaß, mit langen Krallen. Und in den Krallen hielt sie Cepheis leblosen Körper.
    Blut konnte sie keines erkennen, dafür war es zu dunkel und Cephei zu fern, aber wahrscheinlich hatte die Kreatur ihn aufgefangen, bevor er auf den Boden geschlagen war. Das Zittern nahm zu, Vela sah dem Wesen wieder in die Augen, sah nichts weiter als Spiegel in ihnen, und die Angst erfasste sie wie eine Windböe. Sie spürte sie tief in sich, in ihrem rasenden Herzen,
dem Rauschen des Blutes in den Ohren, in den kalten Fingern und verkrampften Zehen.
    Sie wollte weg. So weit und so schnell wie möglich. Wenn es sein musste, auch nach Hause in ihr Dorf auf den alten, hohen Turm, um den Himmel zu beobachten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht fortzugehen?
    In diesem Augenblick erkannte Vela, dass sie nicht mutig war, egal, was sie bisher gedacht hatte. Der Anblick der Kreatur ängstigte sie so sehr, dass sie versucht war wegzulaufen, dahin zurück, woher sie gekommen war, sogar wenn sie den Schlüssel so niemals finden und ihr Vater nicht begnadigt würde. Es war eine schreckliche Erkenntnis, und sie glaubte fast, dass die Kreatur es in ihrem Gesicht sehen konnte, weil sie wieder ein Bild in den Spiegeln wahrnahm. Sie sah sich rennen.
    Aber dort unten lag noch immer Cephei, und seine Brust hob und senkte sich, er lebte noch, und etwas hinderte sie daran, sich einfach umzudrehen und ihn der Kreatur zu überlassen. Es war nicht Mut, es war kein ritterliches Gefühl, das vielleicht Urs antrieb. Es war nur eine leise Regung, ein Flüstern, das kaum zu verstehen, aber hartnäckig war. Cephei brauchte ihre Hilfe. Und sie war ihm etwas schuldig. Er war bei ihr geblieben, obwohl sie ihm die Wahrheit über die Herrin der Südlichen Feste viel zu spät erzählt hatte.
    Also blieb sie und starrte weiter über den Rand. Die Kreatur regte sich ein zweites Mal und schloss die Krallen enger um Cephei, und Vela schrie auf, streckte die Hand nach ihm aus, und die Kreatur legte den Kopf schief.
    »Lass ihn«, rief sie hinunter in den Abgrund.
    Ihre Hand sank herab, und sie sah sich hektisch suchend um. Sollte sie etwas werfen? Vielleicht ließ sie Cephei dann los. Aber
der war immer noch bewusstlos und konnte nicht davonrennen. Wohin auch, niemand konnte an den glatten Wänden hinaufklettern.
    »Lass ihn!«, rief sie noch einmal, lauter diesmal, und ballte die Hände zu Fäusten.
    Ich habe Hunger , kam es aus dem Abgrund zu ihr herauf.
    Vela erstarrte. »Was?«, flüsterte sie.
    Ich habe Hunger. Seit Tagen ist kein Mensch mehr vorbeigekommen und hineingefallen. Ist nicht viel, so ein Junge, aber besser als gar nichts.
    »Nein! Nein, du darfst ihn nicht fressen!«
    Warum nicht?
    »Weil …« Vela suchte nach Worten, die überzeugend klangen, aber sie war eben kein Kanzler, der immer die richtige Antwort wusste. »Weil du es eben nicht darfst.«
    Sagt wer?
    »Ich sage das, ich. Ich will nicht, dass du ihn frisst.«
    Und wer bist du?
    »Ich bin Vela. Und das da in deiner Hand ist Cephei. Cephei und ich sind auf der Suche nach dem gestohlenen Königsschlüssel, weil der Mechanische König sonst nicht meinen Vater begnadigen kann, wenn er nicht aufgezogen wird.«
    Was geht mich der König an? Ich habe Hunger.
    »Dann komm doch hoch und such dir an anderer Stelle etwas zu fressen. Du musst doch wirklich nicht Cephei nehmen. An dem ist doch gar nichts dran. Viel zu dürr.«
    Es kam keine Antwort, die Kreatur legte Cephei auf den Boden

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