Der Koffer
das Leben gerettet.«
»Was für ’n Gong?«
»Na, unser Fahrstuhlmann.«
»Der Kullerkopp? Na, wer weiß, ob das stimmt!«
Aus dem Lautsprecher tönt: »Nummer 57 bitte ins Untersuchungszimmer!«
»Soll ich mit reinkomm?«, fragt Chola.
»Nee, lass mal!«
Sonnie tritt ins Untersuchungszimmer. Chola kennt Rhett, denkt sie. Chola macht auch mit in dem Lügenspiel. Alle lügen.
Der Arzt wendet Sonnie den Rücken zu. Er ist dünn und kantig, seine Bewegungen sind schnell und routiniert. Er wäscht sich die Hände. Vermutlich erinnert er sie deshalb an Rhett, weil er sich die Hände wäscht.
»Sie haben Glück, dass Sie Rechtshänderin sind.«
Er streckt ihr eine wasserfeuchte schmale Hand entgegen. Sonnie ergreift sie, froh, dass sich die Feuchtigkeit ihrer Hand verliert in der Feuchtigkeit seiner.
Rechts ist dort, wo der Daumen links ist.
»Wieso?«
Er hat einen weißen Streifen in der linken Braue.
»Na, Ihren Angaben entnehme ich, dass Sie von der schreibenden Zunft sind. Mit diesem Daumen könnten Sie schon lange nicht mehr schreiben.«
Seine Augen sind mandelförmig, die Haut ist hell. Er ist um die dreißig.
»Ich schreibe nicht mit dem Daumen«, sagt Sonnie.
Er lacht auf. Seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. Die Unterlippe stülpt sich nach vorne. Das gibt seinem Gesicht etwas Nuttiges.
»Nein? Ich schreibe mit dem Daumen. Ich halte einen Füllfederhalter zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, so wie ich es in der Schule gelernt habe.«
»Schön, dass Sie so konservativ sind«, sagt Sonnie. »Dann werden Sie ja sicher meinen Daumen retten. Mit dem Faustkeil.«
»Kommt mir das nur so vor, oder sind Sie feindselig?«
»Ich warte seit drei Stunden.«
»Ich arbeite seit sechzehn Stunden.«
»Ich hatte eine schwere Kindheit.«
»Dito.«
Beide lachen, der junge Arzt mit heruntergezogenen Mundwinkeln, Sonnie heiser und tief. Er greift nach ihrem Arm, betrachtet den roten Streifen auf der Haut, fährt mit den Fingerspitzen auf ihrer Haut entlang, führt ihre wund gebissenen Fingerkuppen nahe an seine Augen.
»Na so was, ein Nagetier«, murmelt er.
Sonnie will ihm die Hand wegziehen.
Er hält ihre Hand fest.
»Entzünden Sie sich immer so schnell?«
Er tastet ihren Daumen ab.
»Ich werde wohl doch amputieren müssen. Was soll eine so schöne Frau mit einem so hässlichen Daumen?«
Die Fohlen.
»Wenn Sie schon beim Fummeln sind«, sagt Sonnie, »können Sie gleich noch einen Blick auf meinen Fuß werfen. Bin heute umgeknickt …«
Er greift nach ihrem Fuß.
Als Sonnie erwacht, liegt sie rücklings auf einer kalten schwarzen Liege. Ihr rechter Oberarm wird von einer aufgeblasenen Manschette umklammert. Auch die kalt und schwarz. Das Ventil zischt. Der Druck lässt nach.
»Ihr Blutdruck ist im Keller, Mrs. Woodhouse«, sagt der Arzt. Er legt seine Hand auf ihre Stirn. Er lässt seine Hand über ihr Gesicht gleiten.
»Sonnie.«
»Andy.«
Sie schweigen.
It is so nice, when you can sit with someone and not have to talk.
Sonnie ist ein Kind. Sie sieht ernst in den Korridorspiegel. Die Hand wischt von unten nach oben übers Gesicht. Sonnie lächelt. Die Hand fährt von oben nach unten übers Gesicht. Sonnie macht ein böses Gesicht. Die Hand fährt wieder hoch. Sonnie macht eine Fratze. Die Hand fährt wieder runter. Sonnie macht ein trauriges Gesicht. Immer und immer wieder wischt die Hand. Es ist eine große behaarte Männerhand. Es ist nicht die Hand ihres Vaters. Ihr Vater hat – Spinnenfinger.
Es ist eine vertrauenswürdige, breite, freundliche Hand. Es ist die Hand des Großvaters. Zum ersten Mal sieht Sonnie ihre eigenen Hände mit Zärtlichkeit. Sie hat die Hände des Großvaters geerbt.
»Haben Sie immer so eine kalte Nase?«
»Was geht Sie meine Nase an?«, stößt Sonnie hervor. Sie will den Großvater festhalten. Der Großvater verschwindet. »Kümmern Sie sich lieber um meinen Daumen.«
Entzünden Sie sich immer so schnell?
»Ich bin mehr als nur ein weißer Kittel«, sagt er und beugt sich über sie.
»Und ich bin mehr als nur ein Daumen«, sagt sie und sieht ihn unverwandt an. Unfassbar, denkt sie, dass ich mit ihm flirte. »Ich bin eine Frau.«
»Zweifelsohne.«
»Und Sie sind ein Mann.«
»Mehr, als mir lieb ist.«
Sie zieht ihn herunter.
Es folgt ein Kuss.
Lang. Saugend. Hungrig. Zungenlos.
Der Kuss wird zum Halsbiss.
Der Halsbiss wird zum Schrittgriff.
Der Schrittgriff wird zum Habenwollen.
Haben.
Rhett schnappt nach Luft.
Niemand da.
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