Der Komet
Augenwinkeln nahm er also das Interieur des »Polanski« wahr: dunkle Holztäfelung, dahinter gedämpft-gelbesLicht, ein paar große Spiegel, viel Messing, hypertrophe Polstersessel. In der Summe eine Atmosphäre, die mit einem jiddischen Wort als heimisch zu bestimmen war: ein Zuhause jenseits der eigenen vier Wände, warm und freundlich. Wäre sein Blick auch nur flüchtig über den Raum geschweift, hätte Alexej an den anderen Restauranttischen sämtliche Grade und Abstufungen der jüdischen Frömmigkeit wahrnehmen können. Chassiden mit Schläfenlocken, die von der »Mazzesinsel«, also der Leopoldstadt, herübergekommen waren – ihre Frauen und älteren Töchter in züchtig-langen Röcken. (Die meisten Frauen hatten das Haar mit Tüchern verhüllt, manche trugen Perücken.) Gleich nebenan saßen Männer, die glatt rasiert waren, andere wieder hatten ihre Bärte kurz gestutzt. Viele der weniger frommen Damen in Abendgarderobe. Auf den Schädeln der älteren Herrschaften ruhten schwarze oder dunkelrote Käppchen aus Samt – die jüngeren Männer bevorzugten steife Häkelkappen, die mit Mustern verziert waren: dem blauen Schild Davids, dem Doppeladler auf gelbem Grund. Nur wenige Hinterköpfe blieben nackt. Hätten Alexej und Barbara sich zur Mittagstunde in diesem Restaurant eingefunden, so wären unweigerlich Kinder im Zickzack zwischen den Tischen herumgesprungen, nur lässig im Zaum gehalten von ihren Eltern. Auch ohne Kinder war es ziemlich laut: Witzworte, Jargongirlanden, zerplatzte Pointen hingen in der Luft. Aber nicht nur Israeliten besuchten das »Polanski«, auch bei Nichtjuden und sogar bei eingefleischten Antisemiten erfreute das Lokal sich großer Beliebtheit – die Küche war hier ausgezeichnet.
Alexej freilich sah in all dem Trubel nur einen Menschen: seine hinreißende Tischgenossin. Wahrscheinlich fühlte er sich durch Barbaras Offenheit herausgefordert, nun seine Familiengeschichte vor ihr aufzublättern. Dasganze elende Zeug: seine Eltern, die bei einem Schiunfall ertrunken / beim Baden abgestürzt / mit dem Flugzeug entgleist / bei einer Bergwanderung sanft entschlafen waren. (Kindern soll man die Wahrheit wohl nicht allzu früh sagen: Die Sache mit den Tabletten, den Depressionen seines Vaters, dem unter der Hand verschleuderten Familienvermögen hatte Alexej erst viel später herausgefunden, auch den Umstand, dass seine Mutter, obwohl kerngesund, ihren Mann auf seiner letzten Reise begleitet hatte – ganz treusorgende Gattin bis ans jenseitige Ufer des Styx.) Er ließ die kalten Korridore auf dem Anwesen seiner Großeltern nicht aus, die zeremoniellen Abendessen mit Hausbediensteten, die völlige Abwesenheit von Umarmungen, verschwieg auch nicht den Haselnussstrauch, von dem er mit dem Taschenmesser die Ruten schneiden musste, wenn er etwas ausgefressen hatte. (Mindere Vergehen: quengeln, in der Nase bohren, lustlos im Essen herumstochern. Macht je fünf pfeifende Streiche auf den Hosenboden. Schwerverbrechen: Bettnässen, Lügen. Eine Porzellantasse zerschlagen, hinterher ihre Scherben in einer Schublade verbergen und das Dienstpersonal anschwärzen. Macht die doppelte Anzahl auf den bloßen Hintern.) Die Erleichterung, als er mit zehn Jahren endlich in das Knabeninternat im Benediktinerkloster von Melk gesteckt wurde. Alexej fasste zu Barbara so großes Vertrauen, dass er ihr sogar erzählen konnte, welcher Genuss es für ihn gewesen war, wenn seine lieben Mitschüler zu Weihnachten nach Hause fuhren – er aber durfte, weil die Patres barmherzig waren, über die Feiertage im Stift über der Donau bleiben. Manchmal war er bis zum Mittag mit einem Detektivroman im Bett geblieben, niemand drängte ihn je, eine Messe zu besuchen – Gott sei Dank. Manchmal lud Pater Prohaska, der Geschichtslehrer, ihn zum Nachtmahl ein. Alexej war zwischen den barockenSchätzen des Benediktinerstifts spazieren gegangen, als ob sie ihm gehörten; er hatte von der prächtig-ausladenden Terrasse auf den winterlichen Fluss hinuntergeschaut und einsame Ausflüge ins tief verschneite Dorf unternommen.
Alexej verschwieg nicht einmal, dass man sich mit seinem Schicksal als Waisenkind in den Augen der Umwelt auch ganz wunderbar schmücken, interessant machen konnte – und dass, wenn er an seinen Vater und seine Mutter dachte, nicht nur Traurigkeit in ihm emporkroch, sondern auch, nein: vor allem eine vielfältig-komplexe Wut. Barbara verschonte ihn zum Glück mit Mitleid, sie hörte nur zu. Große, warme
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