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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Mittelmeeraugen.
    »Wissen Sie, was das Einzige ist, was ich von meiner Familie geerbt habe?«, fragte Alexej zum Schluss. »Nicht die russische Kultur, von der weiß ich nämlich herzlich wenig. Nicht den Adelstitel, von dem ich mir ja auch nichts kaufen kann. Nein, diesen saudummen Akzent. Mein Kindermädchen war nämlich aus Bad Godesberg.« Wirklich: Alexej sprach ein astreines, von keinen Dialekteinsprengseln getrübtes oder verunziertes Hochdeutsch – hier in Wien hielt ihn im ersten Moment keiner für einen Russen, aber jeder für einen Deutschen, was naturgemäß noch schlimmer war. – Im Anschluss an ihre wechselseitigen Lebensgeständnisse hatten sie aus einer gemeinsamen Dessertschale eine Schokoladenmousse gelöffelt, das hatte sich beinahe schon verboten angefühlt, herrlich intim; und dann war es doch noch zu einer Umarmung gekommen. Kein Kuss, das nicht: aber sie hatte ihn lange und tief angeschaut – schließlich war sie ihm mit ihrer langfingrigen schmalen Mädchenfrauenhand einmal vom Nacken her durchs Haar gefahren, ehe sie ins Taxi stieg.
    Bei ihrer nächsten Begegnung holte Alexej sie in ihrer Wohnung ab: ein Ausflug in den Praterpark mit derkleinen Eva und der noch kleineren Susanne. »Bitte Kind in den Kinderwagen einfügen«, befahl Barbara frohgemut, und folgsam schnallte Alexej das Mädchen – ein zierliches Geschöpf mit blonden Locken – in dem Bambus-Stoff-Aluminium-Gefährt fest. Eva, die Größere, wurde nicht gefahren; Eva ging zwischen ihnen beiden an der Hand. Sie war nicht blondlockig, sondern so dunkel geraten wie ihre Mutter (auch die griechische Nase hatte sie von ihr geerbt); außerdem tobte sie im Moment eine höchst bemerkenswerte Trotzphase aus – ihr Lieblingswort war also »Nein« in vielen Variationen und Lautstärken. Alexej gehörte nicht zu jenen Leuten, die unterschiedslos alle Kinder süß finden (manche Kinder konnte er nicht ausstehen, er wollte weder im Guten noch im Bösen mit ihnen zu tun haben; die meisten ließen ihn kalt). Aber Eva und Susanne – die Verkleinerungsform »Susi« wollte Barbara sich energisch verbeten haben –, die beiden Gottlieb-Töchter, waren nun einmal wirklich süß. Der trotzige Teufel gefiel Alexej dabei insgeheim eine Spur besser als der goldige Engel: Er fühlte sich stolz, erwachsen, eigentlich wie ein richtiger Vater, während sie im Frühherbst (das Laub an den Bäumen schickte sich eben an, seine Farbe zu wechseln) durch den Praterpark flanierten.
    Eva fand bald quietschenden Gefallen daran, sich von ihnen beiden durch die Luft schaukeln zu lassen. Alexej hielt ihre linke kleine Kinderhand fest und Barbara die rechte; gleichzeitig schob Alexej den Kinderwagen vorwärts, beinahe wäre er glücklich gewesen.
    Selbstverständlich hatten sie nicht bei jedem Rendezvous die Kleinen dabei, wofür gab es denn die junge, dunkle, freche Kató, das beste ungarische Kindermädchen der Welt? Kató war unter anderem zu verdanken,dass Barbara die Gelegenheit bekam, sich zusammen mit Alexej die große Repin-Retrospektive im Kunsthistorischen Museum anzuschauen. Sie nahmen sich luxuriös viel Zeit für jedes einzelne Bild, blieben lange vor dem Porträt des Unglücksmenschen Wsewolod Michailowitsch Garschin stehen, der sie mit braunen Kummeraugen aus dem Bilderrahmen heraus betrachtete (der Ärmste war im Alter von 33 Jahren aus dem Fenster gesprungen). Sie bewunderten die berühmten Kahnschlepper an der Wolga, Mühselige und Beladene, die sich herzzerreißend mit ihrer Last plagten. Auch das kleine Mädchen in dem grünen Kleid, das da stillvergnügt auf einem Holzbalken in der grünen Landschaft saß bzw. schwebte, fand ihr Wohlgefallen. Ebenso das Porträt des Schriftstellers Dostojewski in dem weiten Mantel, der, die Hände vor dem Knie verschränkt, bärtig-versonnen-reaktionär in sich hineinschaute. Sie sahen rote Fahnen bei einer Gedenkveranstaltung der Kommunarden auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris, die Ilja von Repin wohl nicht nur deshalb besucht hatte, weil er ein Sujet benötigte. Kein Zweifel, das Herz von Alexejs Urgroßvater hatte für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geschlagen. Wahrscheinlich hatte er die Schriften von Alexander Herzen gelesen.
Hinweis
Gleichzeitig hatte er das Zarenreich auf seinen Bildern so festgehalten, dass man es, wäre es je untergegangen, noch in hundert Jahren wiedererkannt hätte. Und sprach es nicht doch für den Zarismus – seine enorme Wandlungsfähigkeit, seinen Reformwillen

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