Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
Vom Netzwerk:
jener Sorte, die einen sitzen lässt? Was aber, wenn es sich genau so verhielt? Tief im Inneren von Alexej ballte sich etwas zusammen. Womöglich würde er sie nie wiedersehen, nie mehr in ihre Augen schauen, nie mehr ihre Hände in den seinen spüren, nie mehr ihre Stimme hören (einen Alt), wie sie seinen Namen rief. Er würde sie sich aus dem Gedächtnis reißen müssen, mit Wurzelwerk und allem Drum und Dran, vielleicht war es besser so, ganz gewiss war es besser so. Warum war ihm dann zum Weinen zumute? Nicht daran denken, redete er seinem Herzen zu, nur nicht daran denken: Es wird schon nicht so schlimm sein.
    Anschließend erinnerte er sich, während draußen immer noch der Schnürlregen auf Salzburg rieselte, an den Kuss im Riesenrad.
    Ehe wir uns dieser Geschichte zuwenden, sollte geklärt werden, welche erotischen Erfahrungen Alexej von Repin in seinem Leben davor angesammelt hatte. Stimmt es also wirklich, dass noch kein Mädchen ihn aus dem Zustand der Unschuld erlöst hatte? Unglaublich, aber verbürgt. War er sich dann wenigstens dessen bewusst, was man früher einmal »die Grundtatsachen des Lebens« genannt hat? Je nun. Er hatte in seinem Stift über der Donau eine stramm katholische biologische Lektion über sich ergehen lassen, die nicht der großartigeFrantišek Prohaska erteilte, sondern ein bemitleidenswerter älterer Pater namens Wilhelm Urbanek, dessen Rede mit unzähligen »Ähs« und »Öhs« durchsetzt war. Einen besonders peinlichen Eindruck hatte er in der Klasse mit seinem Satz »Und, öh, Onanie, äh, ist zu vermeiden« hinterlassen; allerdings wäre die Behauptung, Alexej habe sich je an diesen Ratschlag gehalten, eine faustdicke Lüge.
    Übrigens wusste er zu jenem Zeitpunkt längst Bescheid: Es gab da gewisse lehrreiche Bücher, sogar in der öffentlichen Bibliothek von Melk. Und es gab Bilder, viele Bilder in Magazinen, die Alexej in einsamen Nächten zur Weißglut und zum Überkochen trieben. Wie steht es nun mit jenen Filmen, in denen Männer- und Weiberfleisch in verschiedenen verzückten Posen dargeboten wird? Einmal, es war kurz nach seiner Ankunft in Wien gewesen, hatte Alexej sich bis zur Kassa eines einschlägigen Kinos am Gürtel getraut: Das Eintrittsgeld (acht Kronen 50) lag abgezählt in seiner schweißnassen Faust in der Hosentasche bereit; aber dann sah er (aus dem dunklen Kinosaal heraus hörte er Stöhnen und Klatschen) den Mann mit den blondierten Locken, dem er nun sein Geld hätte geben müssen. Alexej drehte sich auf dem Absatz um und stiefelte davon. Und wie war es – wenn wir das Sexuelle für den Moment beiseiteschieben – mit der Liebe: der reinen und frühen, der zart schmachtenden? Einmal hatte er sich an der Universität nach einer Mitstudentin verzehrt, einer blondgeschopften Astrid aus Kärnten mit den Augen eines waidwunden Rehs. Als er ihr nach vielen Wochen ein Billet zusteckte, in dem er ihr seine Liebe gestand, erhielt er einen Brief zurück, sie könne seine Gefühle leider nicht erwidern; danach würdigte er sie trotzig und verletzt keines Blickes mehr.
    Das also war es schon: Dies war sein ganzer Erfahrungsschatz, als an einem nebligen Tag im Frühherbst ein langer Lulatsch in einer blauen Livree das eiserne Gatter vor einem schmalen Eisensteg beiseiteschob – über ihn betraten Barbara und Alexej jene rot angestrichene Kabine, die unter dem altertümlichen Gestänge des Riesenrades am Prater hing.
    Außer ihnen beiden fuhr an diesem Nachmittag niemand mit diesem altertümlichen Wahrzeichen. Es war ja auch ganz sinnlos: Der Wasserdampf deckte Wien zu – von oben sah man rein gar nichts von der Haupt- und Residenzstadt, ihren Gebäuden, ihren Angelegenheiten, ihren dreieinhalb Millionen Einwohnern, die sich wie ein unordentliches Mosaik aus den 22 Völkern der Donaumonarchie zusammensetzten: Deutschösterreichern, Ungarn, Kroaten, Serben, Bosniaken, Italienern, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Polen, Rumänen, Ruthenen, Russinen, Armeniern, Moldauern, Zigeunern, Lipowanern, nicht zuletzt circa 400.000 Israeliten verschiedener Provenienz … es war also, wir haben das schon festgehalten, absolut sinnlos, Riesenrad zu fahren; es sei denn, man hätte sich überhaupt nicht für die Aussicht interessiert.
    Sie saßen nebeneinander auf der geriffelten Holzbank in der Mitte der Kabine, die so groß wie ein kleiner Eisenbahnwaggon war und leicht in ihrem Gestänge schaukelte – das Eisen krächzte dumpf –; da nahm er ihre Hand und hielt sie fest. Und

Weitere Kostenlose Bücher