Der Komet
sie in eine weitverzweigte Verschwörung hinein, deren Ziel es war, die Völker der Donaumonarchie aufeinanderzuhetzen.
Neben den Schaukästen mit Filmbildern – Max von Winterstein sah blond und durchtrainiert aus, die Wallach hingegen war brünett und zierlich – hingen Rezensionen; die Neue Freie Presse schrieb: »In diesem rasant gefilmten Machwerk wird der Wahrscheinlichkeit nicht erlaubt, ihr hässliches Haupt zu erheben.« Das versprach, aufregend und lustig zu werden; also hinein. Vorher allerdings kaufte Alexej, während Barbara ihn scheel von der Seite ansah, eine große Portion einer Köstlichkeit, die »Rumkokos« hieß; dieser Versuchung hatte er noch nie widerstehen können. (Hier handelt es sich um kleine, mit fettiger Schokoladenglasur überzogene Zuckerkugeln, die tatsächlich vage nach Kokosnuss schmecken; jede Kugel aber umhüllt eine hochprozentige Pointe aus purem österreichischem Rum.) Die Platzanweiserin zeigte den zwei Liebenden ihre Plüschsitze, dann wurde es dunkel im Saal.
Leider mussten sie vor dem Hauptfilm erst einmal eine halbstündige Wochenschau erdulden. Kein Mensch wusste, warum das so war; in der gesamten Monarchie gab es – wie überhaupt in der zivilisierten Welt – wohl kaum einen Haushalt ohne Fernsehgerät. Trotzdem liefen in den Kinos immer noch diese altmodischen Wochenschauenvon der Spule, wahrscheinlich handelte es sich um ein religiöses Ritual.
AUFTAKT : triumphal-festliche Musik, dann ein bonbonbuntes Bild. Der Kaiser zeichnet Prinz Albrecht zu Hohenlohe-Schillingsfürst, den langjährigen Präsidenten des Herrenhauses, für seine Verdienste um die Monarchie mit dem Orden vom Goldenen Vlies aus. (Der Prinz war ein kahler Tattergreis, der sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt, und das Herrenhaus hatte – wie das »House of Lords« in Großbritannien – nur noch schmückende Funktion; gleichwohl rannen Se. Durchlaucht Rührungstränen über die glatt rasierten Wangen.)
ZWEITE SEQUENZ : Wahlen in der österreichischen Reichshälfte. Die Kamera fährt über Wahlplakate (die Roten, die Schwarzen, die Gelben, die Grauen, die Blauen, die Grünen); erste Umfragen ergeben, dass Sozialdemokraten und Christlichsoziale ungefähr gleichauf liegen, dass Umweltschützer und Freisinnige im Abgeordnetenhaus des Reichsrates jeweils auf circa 15 Prozent kommen werden, dass die Deutschnationalen und die Antisemiten einander Wähler vor der Nase wegschnappen; bei der jüngeren Generation steigt die Politikverdrossenheit; allerdings sind die Hochrechnungen aus Böhmen und beiden Galizien noch ungenügend berücksichtigt. (An dieser Stelle fühlte Alexej die schlanken Finger von Barbara, wie sie sich in den Pappbehälter stahlen, den er zwischen seinen Schenkeln festgeklemmt hielt; als er im Dunklen zu ihr hinübersah, schaute Barbara mit kokettem Schuldbewusstsein zurück – dann öffnete sie leicht ihre Lippen und zeigte ihm das Kokoskügelchen, das sie knapp hinter ihrer Zungenspitze balancierte.)
DRITTER BEITRAG : der Vatikan. Berninis Säulen, der apostolische Palast. Papst Clemens XV ., der Montenegriner auf Petri Stuhl, wettert in einer Generalaudienzwieder einmal gegen die Eugenik und droht katholischen Wissenschaftlern, die so etwas praktizieren, mit der sofortigen Exkommunikation. Die Lehre, es gebe höhere und minderwertige Menschenrassen, sei »häretisch, verwerflich und falsch«, die zwangsweise Sterilisation von Erbkranken gar ein »unmenschliches Verbrechen«. Anschließend ein Kurzinterview mit Prof. Dr. Alois Rebhandl vom Institut für Volksgesundheit und Hygiene in Graz: »Es wird Zeit, dass die Kirche endlich im 21. Jahrhundert ankommt.« (Hier spürte Alexej wieder die Hand von Barbara – aber diesmal stahl sie ihm kein Naschwerk, sondern fuhr an der Innenseite seiner Schenkel bis ganz nach oben, wo bei ihm die Hosenbeine zusammenliefen; dort verweilte sie eine Zeit lang.)
VIERTES BILD : ein Besuch in den Kolonien. Elisabeth II . wird von Sir Reginald McNaughtan, dem indischen Generalgouverneur und Vizekönig, am Flughafen von Delhi im Kilt, dem karierten Schottenrock, begrüßt. Ein Infanterieregiment von Gurkhas steht stramm und salutiert. Zusammen besichtigen die Kaiserin von Indien und ihr Statthalter eine Textilfabrik sowie eine Firma, die Programmbündel für Rechner erfindet. Elisabeth II . in Nahaufnahme; sie setzt ihre Großmutterbrille auf und liest vor dem indischen Parlament von einem Blatt Papier ab: »We are pleased with the progress the
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