Der Komet
offenbarte. Gut geformte Beine, schlanke Fesseln. – Und nun müsste den Regeln der Literatur wie der Logik gemäß das folgen, was man unter Fachleuten eine »Stelle« nennt. Leider sind die k. u. k. Zensurbestimmungen in rebus sexualibus aber ausgesprochen streng, sodass wir hier schamhaft unsere Augen niederschlagen (müssen). Die Kamera schwenkt, wenn wir uns diese Geschichte als Film vorstellen wollen, zu den schweren roten Vorhängen, die so fest zugezogen waren, dass jede Aussicht auf die Getreidegasse unmöglich wurde; endlich fährt sie weiter zu dem Stich an der Wand, der jenes Schloss zeigte, das Wolf Dietrich von Raitenau (1559 bis 1617) als Fürsterzbischof für Salome Alt errichten ließ – seine Geliebte, die ihm im Lauf der Jahre 15 oder 16 Kinder gebar. Und mit diesem idyllischen Bild (also demBlick auf das nachmals sogenannte Lustschloss Mirabell im Goldrahmen) halten wir fürs Erste.
Allerdings verbieten die k. u. k. Zensurbestimmungen nur bildliche Darstellungen; über die Tonspur des Films wird nichts gesagt. Und es kann nicht geleugnet werden, dass Barbara Gottlieb während der nächsten Stunden unter anderem Folgendes äußerte: »Mein kleiner Tiger, du wirst doch nicht die Socken anbehalten.« – »Du hast einen schönen Körper.« – »Du darfst ruhig fester zufassen.« – »Warte, ich zeige es dir.« – »Nicht so hastig, wir haben noch den ganzen Nachmittag!« – »Du bist ja ein ganz sinnlicher und zärtlicher Mann.« – »Nicht aufhören! Unmensch!« – » C’est formidable, ça. « – »Ich mag, wie dein Name klingt: Alexej. A-Leck-Säi. So rund. So geschlossen!« – »Mein kleiner Tiger, dafür muss ich dir jetzt leider ein Kissen an deinen hübschen Kopf werfen.« – »Naturtalent. Aber du kannst eben auch gut küssen.« – »Nicht dort. Du Dummer. Hier!« – »Du bist ja unverwüstlich.« – »Ja, mein Süßer. Jetzt! Schön.« – »Ich dich auch.« – »Nein, das werde ich nicht tun. Ich verspreche es dir.« – »Es hat aufgehört zu regnen, glaube ich.« – »Hast du Hunger? Wollen wir aufstehen, etwas essen gehen?«
Was soll man darum herumreden: Ehebruch kommt eben in den besten Familien vor. Und dem Tod blieb in diesem Hotelzimmer im »Goldenen Hirschen« kein Reich mehr. Die Einsamkeit dankte für ein paar Stunden ab, die Angst verlor ihren Kopf. Beinahe wäre Alexej glücklich gewesen.
VII.
Die drei Hofräte
Sie trafen sich an jedem zweiten Dienstag im Monat um Punkt fünf Uhr nachmittags im Café Central – es sei denn, dieser Dienstag wäre auf einen christlichen oder jüdischen Feiertag gefallen: dann wurde das Treffen eben am darauffolgenden Donnerstag nachgeholt. Sie trafen sich, um Tarock zu spielen (wenn sie einen vierten Mann dafür fanden, denn sie spielten grundsätzlich nur zu viert) oder um gemeinsam über philosophischen Fragen zu brüten. »Entweder tarockieren oder philosophieren«, lautete ihr Wahlspruch, »am End’ is’ eh alles wurscht.« Passten sie eigentlich ins Café Central, hätte man sie ohne Weiteres hier vermutet? Diese Frage dürfen wir getrost verneinen. Das Café Central liegt, wie wir aus berufenem Munde wissen, »unterm Wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit«; genauer gesagt befindet es sich – und das schon seit Generationen – im Innenhof des Palais Ferstel und sieht für ein Wiener Etablissement verdächtig orientalisch aus: Kreuzbögen, hohe Säulen, viele Ornamente, viel Gold, überhaupt sehr bunt, rote runde Marmortische – der Kenner hätte das Café Central exakt 243 Straßenkilometer weiter östlich platziert, also eher im schönen Budapest als hier in der Reichshauptstadt.
Seit alters und jeher war es der Treffpunkt für die Theaterleute und Literaten gewesen: Peter Altenberg hatte hier gesessen, Egon Friedell, auch Lew Bronstein
Hinweis
, der in Wien eine Zeitung mit dem merkwürdig-hochtrabenden Namen Prawda (»Die Wahrheit«) herausgab, ehe er sich in den Zwanzigerjahren als Verfasser wilder utopischer Zukunftsromane einen Namen machte. Lange vorher hatteein Feuilletonredakteur namens Theodor Herzl zu den Stammgästen gehört; im Nebenberuf war jener Herzl als Prophet und Träumer tätig gewesen und hatte sich, während er durch seinen dunklen Mosesbart strich, ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina zusammengesponnen, das liberal, offen, menschenfreundlich und modern sein sollte: eine unverfälschte Wiener Caféhausvision. Später hatten sich dann die Genies aus den Rosenhügelstudios
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