Der Komet
unterstand der Jischuw immer noch dem alten Sultan in Stambul
Hinweis
, aber das Osmanische Reich war als erstes der großen Imperien von den Zentrifugalkräften der Geschichte erfasst worden: Die Zentralgewalt zeigte sich geschwächt, die Provinzen an der Peripherie trieben immer weiter auseinander, und de facto war der Jischuw längst unabhängig, wenn man von Fragen der Außenpolitik absah. Und doch hatte der Zionismus ausgerechnet in jener Frage versagt, die sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts als eine seiner wichtigsten Aufgaben herausgestellt hatte: Der Jischuw war nicht zum Magneten für die Orientalen geworden. Die uralten Judengemeindenin Kairo, Alexandrien, Damaskus, Tripolis und Teheran – Gemeinden, die sich dort Jahrhunderte vor der Geburt von Mohammed angesiedelt hatten – dachten gar nicht daran, ihre Koffer zu packen und in den Jischuw überzusiedeln; so lebten heute noch immer mehr Juden in Bagdad als in Jerusalem. (Dabei stellten sie in Jerusalem schon seit 1845 die Mehrheit der Bevölkerung!) Der Jischuw war darum sehr russisch geprägt; man fand dort kaum Deutsche, kaum Israeliten aus der Donaumonarchie; er war nicht bunt multikulturell gemischt; es gab in Tel Aviv kein einziges Caféhaus, das Rabbi Brandeis als solches wieder- und anerkannt hätte. Mit einem schrecklich unhöflichen Wort gesagt (Adolf Brandeis hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als dass er dies in Anwesenheit eines Journalisten eingestanden hätte, aber sich selbst gegenüber durfte er doch ehrlich sein): Der Jischuw war furchtbar provinziell. Wenn man die Wahl zwischen dem Posten eines Oberrabbiners von Wien und einer Stellung in Jerusalem hatte, hätte man schon ein Draufgänger sein müssen, um sich für die zweite Wahl zu entscheiden – und aus dem Draufgängeralter war Prof. Dr. Brandeis einigermaßen heraus.
Wie hieß nun der dritte Hofrat im Bunde? Horribile dictu: Grausenburger. Die Witze über seinen Namen (»Heinrich, mir grausenburgert vor dir!«) hatten sich einst enormer Beliebtheit erfreut, waren aber auf einen Schlag verstummt, als er zum Kardinal von Wien avancierte. Just in dieser Zeit kam nämlich heraus, dass katholische Geistliche in allen Kronländern der Donaumonarchie sich seit Jahrzehnten an Kindern, vor allem Knaben, vergangen hatten, eine furchtbare Geschichte – und sogar Kritiker der Kirche mussten hinterher zugeben, dass Heinrich Grausenburger in dieser Lage sein Bestes und Ehrlichstes getan hatte. Ohne Anweisungen aus Romabzuwarten, hatte er den k. u. k. Ermittlungsbehörden sofort alle Kirchtore, alle Klosterpforten, alle Türen der Internate sperrangelweit geöffnet; er hatte die Opfer zur besten Sendezeit im Namen der Kirche um Verzeihung gebeten und einem Dutzend von ihnen während der Sonntagsmesse in St. Stephan auf den Knien die Füße gewaschen.
Man sah dem Kardinal – einem großen dicken Mann mit rosigen Wangen, dessen Haupthaar einst dunkelblond gewesen war – seine Herkunft als oberösterreichischer Bauernbub an. Wenn er in Zivilkleidung unterwegs war, also keinen Kardinalspurpur trug, bevorzugte er graue Anzüge und dunkle Pullover; er sah dann auf verwirrende Weise wie ein beleibter Bruder von Dr. Anton Wohlleben aus. Heinrich Grausenburger kannte jedes Spitzenrestaurant zwischen Palermo und Mailand, in der Provence und in Paris, aber auch in Wien, Budapest, Triest, Prag, Lemberg und Krakau, kurzum: im gesamten christlichen Abendland; er verfügte über einen mit erlesenen Flaschen gefüllten Weinkeller; er war (wie allerdings nur seine engsten Freunde wussten) selbst ein herausragender Küchenmeister – seine mit Wildresten, Speck und Wacholderbeeren gefüllten Palatschinken in Weinsauce kochte ihm so schnell keiner nach. Kardinal Grausenburger gönnte sich also alle sinnlichen Vergnügungen, denen man wohl frönen muss, um einen zölibatären Lebenswandel halbwegs auszugleichen.
Diese drei versammelten sich am Dienstag immer um Schlag fünf Uhr im Café Central im I. Bezirk. Beinahe klingt es wie der Anfang von einem Witz: Ein gläubiger Katholik, ein frommer Jude und ein agnostischer Psychoanalytiker kommen in ein Lokal … Hätte sich noch ein Muslim zu ihnen an den roten Marmortisch gesetzt, so hätten sie mit diesem Mann sofort Tarock gespielt. Es setztesich allerdings an diesem nebligen Septembernachmittag niemand zu ihnen. So blieb den drei Hofräten (»am End’ is’ eh alles wurscht«) nichts anderes übrig, als über hochgeistige Dinge zu
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