Der Komet
im Central versammelt, um an ihren Drehbüchern zu feilen oder einander kunstvoll ausgedachte Beleidigungen an den Kopf zu werfen. (In der heutigen Zeit konnte ein Caféhausbesucher mit etwas Glück einen Blick auf den Regisseur Walter A. Königstein erhaschen, wie er gerade spitznasig-melancholisch in seiner Melange rührte.) Zu ihrer kleinen Dienstagsrunde aber gehörte kein einziger Dramatiker oder Filmregisseur; keiner von ihnen hatte das Recht, sich einen Literaten zu schimpfen; sie kannten einander vielmehr seit Studententagen, denn sie hatten gemeinsam im Kant-Seminar bei dem berühmten Professor Bloch gesessen.
Von den Kellnern wurden sie intern nur »die drei Hofräte« genannt. Alle drei trugen diesen Titel honoris causa, keiner stand als Beamter in Staatsdiensten. Den ersten Hofrat durften wir in einem früheren Kapitel schon flüchtig kennenlernen: Es handelt sich um keinen anderen als den Psychoanalytiker Dr. Anton Wohlleben – in dieser Runde hieß er freilich nur »der Toni«. Von dem zweiten Hofrat haben wir schon einmal en passant reden hören; es war Prof. Dr. Adolf Brandeis, der Oberrabbiner von Wien, ein kleiner schmaler Mann mit runder Goldbrille, grauem Spitzbart und feinen semitischen Gesichtszügen, den man in der Öffentlichkeit noch nie in einer anderen Aufmachung gesehen hatte als im dunklen Anzug mit Fedorahut. Rabbi Brandeis hatte eine heisere, überraschendhohe Stimme und gehörte zu jener seltenen Spezies von Menschen, die nie sprechen, ohne vorher nachzudenken. Wenn er über jemanden sagte: »Herr Soundso ist ein Trottel«, dann klang das also, als würde er sagen: »Nach reiflicher Überlegung, Konsultation der einschlägigen Talmudstellen und dem Wiederlesen von Kants drei Kritiken sehe ich mich leider zu dem Schluss gedrängt, dass Herr Soundso ein Trottel ist.«
Rabbi Brandeis war dieser Tage (der September neigte sich trüb-grau seinem Ende entgegen) in die Schlagzeilen und sogar für eine Minute in die Fernsehnachrichten geraten; er habe, hieß es, das Angebot erhalten, als aschkenasischer Oberrabbiner nach Jerusalem zu gehen, und seine Antwort sei eine zwar höfliche, aber doch eindeutig-endgültige Absage gewesen. Es brodelte in der Gerüchteküche, und wie in solchen Fällen üblich, hatten die Gerüchteköche so ziemlich in allem recht. Warum aber hatte Prof. Dr. Adolf Brandeis ein dermaßen ehrenvolles Angebot in den Wind geschlagen; gehörte er etwa zu jenen Söhnen des auserwählten Volkes, die dem Zionismus aus theologischen Gründen ablehnend gegenüberstehen? Keineswegs: Rabbi Brandeis bewunderte die Leistungen des Jischuw (des jüdischen Gemeinwesens in Palästina), zu denen nicht an letzter Stelle gehörte, dass er nach bald zweitausendjährigem Dornröschenschlaf die hebräische Sprache zu neuem Leben erweckt hatte.
Viele der Kibbuzim – der landwirtschaftlichen Gemeinschaftssiedlungen im Heiligen Land – kannte der Oberrabbiner von Besuchen, auch hatte er in Tel Aviv am Strand gesessen, Kichererbsenmus gegessen und einen Becher frischen Orangensaft geleert. Gern erinnerte Prof. Dr. Brandeis sich an die Vorlesung zurück, die er einst an der Universität von Haifa vor jungen Studenten gehalten hatte. Die Stadt Haifa lag traumhaft schönauf einem Hügel über dem Meer und wurde von Juden und Arabern gemeinsam verwaltet. In Nablus hatte er auf dem Schuk, dem alten arabischen Markt, ein freundliches Nichts gekauft, ein Andenken für seine Frau: ein geschnitztes Kamel aus poliertem Olivenholz. Und selbstverständlich hatte der Oberrabbiner auch die Kotel besucht, die Klagemauer in Jerusalem – aber seltsam: dieses Erlebnis hatte ihn emotional nur an der Oberfläche berührt. (Viel tiefer blieb der Eindruck, den der Vorabend in seinem Gemüt hinterließ: ein Konzert in der Jerusalemer Philharmonie, eine zu Tränen rührende Interpretation der Ouvertüre des »Tannhäuser« – dirigiert von dem weltberühmten René Birnbaum.) Vielleicht ließ sich die Enttäuschung des Rabbiners darauf zurückführen, dass diese religiöse touristische Sehenswürdigkeit – immerhin die heiligste Stätte des jüdischen Volkes! – in einer engen, also beinahe lichtlosen Gasse zu finden war. Von den arabischen Häusern auf der anderen Straßenseite trennten die Klagemauer nur drei Schritte; die Beter hatten so wenig Platz, dass ihre Ellbogen einander in die Quere kamen, während sie in dichten dunklen Menschentrauben zusammengedrängt mit den Oberkörpern wippten.
Nominell
Weitere Kostenlose Bücher