Der Kommissar und das Schweigen - Roman
war selbst in der Kirche, als ich noch jünger war, aber dann hat meine Mutter mir verboten, dorthin zu gehen.«
»Sie hat es verboten?«
»Ja ... ja, übrigens, Jung ist mein Name.«
Sie betrachtete ihn misstrauisch, aber dann nahm die Schärfe in ihrem Blick etwas ab.
Der erste Vers, dachte Jung. Wie zum Teufel kann sie bei dem Wetter nur so blass sein?
»Was mir dort am besten gefiel, war die Freiheit«, erklärte er. »Dass man sich hingeben durfte ... nun ja, ich war ja erst fünfzehn, sechzehn, wahrscheinlich habe ich den Kern der Botschaft gar nicht so richtig verstanden, aber die Stimmung gefiel mir. Das Licht, sozusagen, aber darüber wollte ich gar nicht mit Ihnen sprechen.«
»Machen Sie sich über mich lustig?«, fragte Ulriche Fischer. Jung wurde rot im Gesicht. Das war eine Kunst, die er sich im
Laufe der Jahre angeeignet hatte, und inzwischen gelang es ihm innerhalb von weniger als einer Sekunde.
»Verzeihung«, sagte er. »Das habe ich nicht gewollt ... Ich werde jetzt meine Fragen stellen.«
Ulriche Fischer brummte etwas, was er nicht verstand.
»Ich fürchte, es werden so ziemlich die gleichen Fragen sein, die Sie schon gehört haben. Zumindest einen Teil davon, ich bin ja gerade erst zu diesem Fall gestoßen ... Aber ich bin natürlich über alles informiert. Es ist schrecklich, wirklich schrecklich, ich hoffe wirklich, dass wir ihn kriegen, bevor er es wieder macht ... Sie haben selbst keine Kinder, Frau Fisch? Ich meine, Fischer?«
Sie machte Anstalten, etwas zu sagen, aber die Worte blieben in der Kehle stecken.
»Ich auch nicht«, sagte Jung. »Aber es wäre schön, später welche zu haben. Was nun das Wichtigste ist, was sie in diesem Fall wissen wollen, ist, wann – also ganz genau – wann genau Ihr Priester in dieser Sonntagnacht verschwunden ist ... oder ob es am Montagmorgen war?«
Sie schluckte wieder. Und hob den Blick ein wenig.
»Und ob er Ihnen etwas von seinen Plänen gesagt hat ...«
»...«
»Im Augenblick gehen sie ja davon aus, dass Sie nicht wissen, wo er sich befindet. Dass er das vor Ihnen geheim hält, um Sie zu schützen ... und das wäre ja eigentlich eine edle Handlungsweise.«
»...«
»Und eigentlich ist es ja auch nicht so verwunderlich, dass er sich versteckt hält, finde ich. Vielleicht wären sie sogar bereit, ihm eine Art Amnestie zu geben ...«
»Was zu geben?«, fragte Ulriche Fischer.
»Nun ja, ich weiß es natürlich nicht genau«, sagte Jung. »Ich versuche nur so die Stimmung zu deuten. Niemand hat das so deutlich gesagt bisher.«
Er wartete. Vermied es, sie anzusehen, während er sich ein wenig nervös auf dem Handrücken kratzte. Sie wird keinen
Pups von sich geben, dachte er. Warum zum Teufel sollte sie sich dafür entscheiden, ausgerechnet mit mir zu reden, wo sie doch jetzt hier schon seit wer weiß wie lange hockt und schweigt.
Eine Woche?
Nein, mehr. Das mussten schon fast zehn Tage sein.
Also vollkommen sinnlos. Er seufzte.
»Es war am Abend«, sagte sie plötzlich.
Er zuckte zusammen und wagte keinen Ton zu sagen. Es vergingen fünf Sekunden.
»Am Abend«, wiederholte sie. »Danach haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
»Ja?«, sagte Jung.
»Er hat nichts mit dem Tod der Mädchen zu tun«, erklärte sie nach einer weiteren Denkpause, die so lang war, dass Jung schon dachte, sie hätte wieder den Deckel auf jede mögliche Fortsetzung gelegt.
»Gar nichts?«, fragte er.
»Nein.«
Erneutes Schweigen. Er überlegte, ob er noch einmal den Block fallen lassen, einen Hustenanfall bekommen oder erröten sollte, aber nichts davon erschien ihm wirklich passend, und trotz allem war sein Repertoire nun mal ein wenig eingeschränkt.
»Wie spät war es ungefähr?«, fragte er schließlich. »Ich meine, als Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben.«
Sie machte eine sonderbare Gebärde mit den Armen. Oder eher mit den Schultern ... als schüttelte sie ihre Flügel, dachte Jung und hätte fast gelacht. Engeltraining.
»Ungefähr halb zehn.«
»Aber woher können Sie so sicher sein, dass keine Ihrer Mitschwestern ihn später noch gesehen hat?«
»Weil wir aus einem Fleisch und Geist sind.«
»Was?«, fragte Jung.
Sie ist verrückt, dachte er. Verdammt, wie konnte ich vergessen, dass sie verrückt ist?
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte er. »Sie meinen das mit der Dreifaltigkeit.«
Plötzlich verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln, und er erstrahlte in einer prächtigen Röte.
»Ach«, sagte er. »Ich
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