Der Kopfjäger: Der 1. SPECIAL X Thriller
jüngeren Vergangenheit in so vielen anderen Städten aufgetaucht waren, Clifford Olsons Amoklauf war dabei lediglich ein isoliertes Beispiel. Außerdem ist Vancouver eine verrückte Stadt. Die meisten Hafenstädte sind das: Man möge jeden beliebigen Polizisten oder Strafverteidiger fragen. Es gab hier auch nicht nur die üblichen Gammler und Perversen, die die Flut jeden Tag hereinspülte, sondern diese Stadt war außerdem auch noch das wichtigste nordamerikanische Tor für die Einfuhr und den Handel mit Heroin. Und deshalb gab es hier eine Unzahl ausgebrannter Freaks, die davon einen Anteil haben wollten.
Die zweite Theorie – etwas komplizierter – ergab sich aus Superintendent DeClercqs Tonbandaufnahme zum Thema Psychologie. Als Scarlett sich Dr. Ruryks Beispiele angehört hatte, war ihm bewusst geworden, dass der Headhunter praktisch jeder einzelne Mann in dieser Stadt sein konnte; dann nämlich, falls diese Verbrechen aus einer Psychose erwuchsen und von irgendeinem Verrückten verübt wurden, der einfach eine Macke hatte. Ein mordlustiger Sexualtäter etwa, der an der Oberfläche ein ganz normales Leben lebte, der seinen legitimen täglichen Geschäften nachging und dabei nach seinem nächsten weiblichen Opfer Ausschau hielt. Wenn man akzeptierte, was Ruryk über den sogenannten Hochstapler gesagt hatte, dann konnte es sogar sein, dass der Killer nicht einmal wusste, dass er selbst der Headhunter war. Im Extremfall konnte das sogar bedeuten, dass einer der Kollegen bei der Headhunter Squad der Killer war, nach dem sie alle suchten. Ein Verrückter, der Jagd auf sich selbst machte und es selbst nicht wusste.
Die letzte Theorie war die, die er und Kathy sich, wie es schien, jetzt zu eigen gemacht hatten. Diese Theorie besagte, dass der Headhunter tatsächlich Anhänger eines Kults war. Eines Voodoo-Kults? Eines kannibalistischen Kults? Eines Kults nordamerikanischer Indianer? Vielleicht handelte es sich um eine aktive Form von Massenpsychose. Scarlett hatte vor ein paar Stunden etwas über ein psychiatrisches Konzept gelesen, das als folie à deux bezeichnet wurde. Das lag dann vor, wenn die Geistesgestörtheit mit einer Person beginnt und dann durch große Nähe von diesem Individuum auf ein anderes übergeht. Der Guyana-Kult von »Reverend« Jim Jones ließ sich möglicherweise so erklären. Vielleicht war in Vancouver ein Voodoo-Kult aktiv und Hardy war ein vereinzelter Psychopath, der diesen Kult als eine Art Tarnung benutzte. Alles war möglich. Die Geschichte des Mordes zeigte das.
Als Rick Scarlett aus der Duschkabine trat, schob er diese Gedanken von sich. Er wischte den mit Dampf beschlagenen Spiegel ab und betrachtete seinen Körper. Das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Er war stolz darauf, dass er nicht die geringste Spur von Fett, bloß straffe Muskeln finden konnte, starke Schultern, einen flachen Bauch und ebensolche Brustmuskeln und gut entwickelte Schenkel. Und gut bestückt war er auch.
Yep, dachte Scarlett lächelnd. Wenn ich eine Frau wäre, würde mir bei einem solchen Mann einer abgehen.
Er macht ein paar Muskelübungen, sah sich dabei im Spiegel zu, und dann drängte sich ein Bild von Kathy ohne Kleider in sein Bewusstsein.
Verdammtes Weib, dachte Scarlett. Ich muss die Kontrolle zurückgewinnen.
Und mit diesem Gedanken verdrängte er seine diversen Theorien über die Headhunter-Ermittlung.
Und das war zu schade.
Wäre er ihnen nur weiter nachgegangen.
Er würde nie erfahren, wie dicht er davor gestanden hatte, die Wahrheit zu entschlüsseln.
Und doch auch, wie weit entfernt.
Als Rick Scarlett das Badezimmer verließ, ging in dem Fenster der Wohnung auf der anderen Straßenseite ein Licht an. Sein Herz machte einen Satz. Schnell knipste er die eigenen Lampen aus, ging ins Schlafzimmer und holte sein Fernglas.
Als Scarlett diese Wohnung vor ein paar Jahren gemietet hatte, hatte er ungehinderten Blick auf den Stanley Park gehabt. Aber das war nicht von langer Dauer gewesen. Ein Jahr darauf hatte eine Wohnbaugesellschaft das Grundstück nebenan bebaut, und das neue Gebäude war so hoch wie sein eigenes. Scarlett war darüber echt sauer gewesen, bis dann Miss Torso eingezogen war.
Scarlett hatte nie ihre Bekanntschaft gemacht. Aber er hatte sie Miss Torso genannt, seit er das letzte Mal James Stewart in Hitchcocks Film Das Fenster zum Hof gesehen hatte. Miss Torso war Tänzerin und übte regelmäßig spät nachts. Sie war blond. Sie war jung. Sie hatte eine umwerfende
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