Der Krake
nicht so, als stünde kein Kämpfer in Billys Ecke, nicht wahr?«
»Vardy«, sagte Baron, »wären Sie so nett, uns Ihre Meinung darzulegen.« Mit großer Geste klappte er sein Notizbuch auf, als könne er sich nicht mehr an jede Einzelheit dessen erinnern, was er nun zu sagen gedachte. »›Es war eine Flasche, Sie Bulle, Sie Obrigkeitswurm. Wir haben Chaos übereinander gebracht, Sie Abschaum etc. ...‹«, las er ungerührt. »Ich lektoriere mal ein bisschen, streiche die Beiworte und halte mich an das Wesentliche. ›Es war eine Flasche. Eine Flasche, die auf uns losgegangen ist. Sie hat uns mit einem Schädel gebissen. Ihre Arme waren aus Knochen. Es war ein echter gläserner Gegner.‹ Dieser letzte Satz gefällt mir wirklich.« Er steckte sein Notizbuch weg. »Also, Vardy«, sagte er. »Dazu muss Ihnen doch irgendwas in den Sinn kommen.«
Vardy schloss die Augen. Er lehnte sich an die Wand und blies die Wangen auf. Als er die Augen schließlich wieder aufschlug, sah er nicht Baron oder Collingswood an: Er starrte brennenden Blicks den verkrüppelten Chaosnazi hinter der Scheibe an.
»Wir wissen, worum es dabei geht, richtig?«, sagte Baron. »Lassen Sie mich neu formulieren. Wir haben keine Ahnung, worum es geht. Niemand weiß das. Aber wir haben eine vernünftige Vorstellung davon, was da verdammt noch mal angeschossen kam und dafür gesorgt hat, dass der junge Harrow spurlos verschwunden ist.«
»Nun gut, ich gehe zurück ins Museum«, sagte Vardy. »Mal sehen, ob ich der Sache etwas mehr Sinn abringen kann. Einmal«, fügte er plötzlich wild erregt hinzu, »in einer gottverdammt langen Zeit, wäre es wirklich eine Freude, wenn die gottverdammte Welt mal so funktionieren würde, wie sie sollte. Ich bin es leid, das Universum in so einem aleatorischen Taumel zu erleben, die ganze verdammte Zeit.«
Seufzend schüttelte er den Kopf. Und schenkte ihnen zu Collingswoods Verwunderung ein beschämtes, angespanntes und knappes Lächeln.
»Also«, sagte er. »Ehrlich. Überlegen Sie. Warum zum Teufel beschützt ein Engel der Erinnerung unseren Billy?«
Doch Dane beschützte er nicht, und darum lag Dane nun wirr und nur halb wach in einer verkrampften Haltung an etwas geschnallt, das er erst nach langer Zeit als krummes Kreuz identifizieren konnte. Er hing wie eine Opfergabe an einer ungleichmäßigen, mannsgroßen Swastika. Er ließ die Augen geschlossen.
Er hörte Echos; Schritte von irgendwoher, absichtsvolles, närrisch lautes Gelächter, das ihn, obwohl es so durchschaubar demonstrativ war, ängstigte. Das Knurren und Bellen eines großen Hundes. Nacheinander spannte er jeden Muskel an seinen Armen und Beinen, um sich zu vergewissern, dass er noch ganz war.
Krake gib mir Kraft, betete er. Schick mir Kraft aus deiner tiefen Finsternis. Er wusste, welche Gestalten er zu sehen bekommen würde, wenn er die Augen öffnete. Er wusste, dass seine Verachtung, wie machtvoll sie auch sein mochte, nicht stärker sein würde als sein Entsetzen, und dass er diesen Punkt überwinden musste, und dass weder sein Geist noch sein Magen dem gewachsen waren, nicht in diesem Moment. Also behielt er die Augen geschlossen.
Die meisten Hexer des Chaos würden einen langweilen, bis einem der Arsch abfiele, mit ihrem Gerede darüber, dass das Chaos, das sie anzapften, Befreiung verheiße, dass ihre nonlineare Hexerei die Antithese zu der geradlinigen, begrenzenden Denkart sei, die, so behaupteten sie hartnäckig, erst zu Birkenau geführt hatte, alles ein beschissenes Blabla. Aber es war von jeher ein Teil der politischen Taschenspielerei, stets nur diesen Aspekt der äußersten Rechten zu betonen. Da gab es immer auch noch die etwas zurückgedrängtere, aber nicht weniger loyale und loyal faschistische Tradition: Hitlerbarock.
Die großspurigste aller faschistischen Sekten stellten die Chaosnazis dar, die, emsig wie Strasseristen, bestrebt waren, zurückzufordern, was gemäß ihrer hartnäckigen Überzeugung der wahre Kern einer aus der Spur gelaufenen Bewegung war. Das knarrende schwarze Leder der SS, so insistierten sie gegenüber den Wenigen, die ihnen zuhören mochten, statt schon bei ihrem Anblick davonzurennen oder anzugreifen, war eine pornografische Selbstdarstellung von Feiglingen, eine klägliche Verfälschung der Tradition.
Seht euch doch lieber mal das Getöse im Osten an, sagten sie. Seht euch die autonome Operation Werwolf mit ihren an Terrorzellen erinnernden Strukturen an. Seht euch die Fressorgien von Berlin
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