Der Kreis aus Stein
konnten.
Man erreichte den Horst über eine schmale Steintreppe, die im Zickzack an der Ostwand der Zinne entlanglief. Er besaß weder Schartenbacken, hinter denen Bogenschützen sich verstecken konnten, noch Absätze auf den Treppen, wo Schwertkämpfer ihre Klingen schwingen konnten. Er hatte nur eine breite Landefläche oben auf der Zinne für die Graaks, dann sechs kreisrunde Öffnungen in den Nestern darüber.
Die Herzöge von Longmot hatten hier seit Generationen keine Graaks mehr gezüchtet. Mendellas empfand dies als Schande. Vor einhundertundzwanzig Jahren hatte es mehrere harte Winter in Folge gegeben, und die Graaks waren hier im Norden vor Kälte erfroren. Während eben dieser Winter waren die Frowth-Riesen über den Schnee nach Norden gewandert. Doch als dann die Winter wärmer wurden und wieder wilde Graaks von Süden her heraufzogen, hatten die Könige von Heredon sie nicht mehr, wie ihre Vorväter noch, gezähmt. Wenn sie Botschaften verschickten, vertrauten sie auf Reiter mit Kraftpferden.
Das war eine Schande, dachte Orden. Eine wertvolle Tradition war verlorengegangen. In gewisser Hinsicht wurde das Volk dadurch ein wenig ärmer.
Die Horste waren in schlechtem Zustand. Steinerne Tränken standen leer. Abgenagte Knochen lagen herum, Überbleibsel längst vergessener Fütterungen.
Orden hatte in den vergangenen Jahren mit Hilfe von Graaks Botschaften nach Norden geschickt, und einige Graaks hatten hier Rast gemacht. Niemand hatte je den Boden vom Mist gereinigt, und jetzt war der Boden reichlich mit Kalk bedeckt.
Die Stufen, die zum Horst hinaufführten, waren abgenutzt.
Purpurwinden rankten aus den Spalten im Gestein hervor und öffneten die violetten Blütenblätter zur Sonne hin.
Orden fand allerdings, daß man vom Landeplatz auf dem Horst einen guten Ausblick hatte – sogar bis auf die Dächer des Bergfrieds der Übereigner und des Herzogs. Also postierte er dort heimlich sechs Bogenschützen mit Stahlbögen und befahl ihnen, sich zu verstecken, zu beobachten und nur zu schießen, wenn es Raj Ahtens Truppen gelang, durch das Tor einzudringen. Zusätzlich stellte er einen einzelnen Schwertkämpfer auf, der die Treppe bewachen sollte.
Er wartete im Halbdunkel, bis sein Leibdiener eine Laterne anzündete, dann ging er durch den Bergfried der Übereigner.
Von außen schien es ein strenger, düsterer Bau zu sein – ein runder Turm, der bis zu dreitausend Übereigner aufnehmen konnte. Als Fenster dienten eine Handvoll schmaler Schlitze im Mauerwerk. Orden glaubte, daß nur wenige Übereigner nach Überlassen ihrer Gaben in den Genuß des Sonnenlichts gekommen waren. Wurde man Übereigner für den Herzog, sperrte man sich praktisch selbst ein.
Das Innere des Bergfrieds der Übereigner war dagegen überraschend luxuriös. Die Wände waren weiß gestrichen, auf die schmalen Fensterbretter hatte man mit Hilfe von Schablonen Bilder von blauen Rosen und Gänseblümchen gemalt. Jedes Stockwerk im Turm hatte seinen eigenen Gemeinschaftsraum, die Feuerstelle lag in der Mitte, und die Betten standen an den Außenwänden. Diese Räume waren so gedacht, daß zwei Wächter des Nachts einhundert oder mehr Übereigner gleichzeitig im Auge behalten konnten. In jedem Zimmer gab es Schachbretter, bequeme Sessel und frische, mit Lavendel gemischte Binsen auf dem Fußboden.
König Orden sorgte sich um seinen Sohn. Noch immer hatte er keine Nachricht von Gaborns Aufenthaltsort erhalten. War der Junge umgebracht worden? Saß er in Sylvarrestas Bergfried fest, als Übereigner von Raj Ahten? Vielleicht ruhte er sich vor einem warmen Feuer aus, schwach wie ein junges Kätzchen, und spielte Schach. Man konnte nur hoffen. Man konnte nur hoffen. Doch Ordens Hoffnung schwand.
Der Bergfried des Herzogs verschloß zur Zeit weniger als einhundert Übereigner vor der Außenwelt, alle in einem einzigen Saal. Mendellas rechnete sich aus, daß sich dort für die Verteidiger der Festung wenigstens fünfhundert Übereigner hätten aufhalten müssen. Allerdings waren beim Kampf um die Burg wenigstens vierhundert von ihnen ums Leben gekommen.
Der Kampf um die Freiheit verlangte viele Opfer.
Die Befestigungsanlagen des Turms konzentrierten sich auf dessen unterstes Stockwerk. Mit großer Sorgfalt inspizierte Orden diese Einrichtungen, denn er hoffte, etwas zu finden, das ihm gegen Raj Ahten einen gewissen Vorteil verschaffte.
Ein Fallgatter öffnete sich zu einem Wachraum hin, wo ein Dutzend Lanzenträger Platz hatten. Der
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