Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
empört. »Was redest du da? Jede Sekunde mit dir ist mehr wert als alle Juwelen der Welt. Warte, ich halte das Schiff sofort an…«
»Untersteh dich!«, fuhr ihm Rebekka in die Parade. »Ich denke, wir wollen unseren kranken Freund besuchen?«
David atmete demonstrativ aus. Rebekka hatte es tatsächlich geschafft, ihn wieder aufzuheitern. »Du hast Recht, Schatz. Das mit dem Schiff probieren wir ein andermal. Ehrlich gesagt wäre es mir um Brits willen nicht unlieb, wenn dieser Dampfer etwas schneller fahren könnte. Ich wünschte, wir wären jetzt auf der Bremen.«
»Was ist das? Ein neues Schiff?«
David nickte. »Ich hab von ihr auf unserer Herreise nach Japan gelesen. Die Bremen ist ein deutscher Schnelldampfer und hat das Blaue Band gewonnen. Für die Strecke von Cherbourg nach New York hat sie nur gut viereinhalb Tage benötigt. Stell dir das einmal vor! Auf diesem Superschiff wären wir schon nach gut einer Woche in San Francisco.«
»Mir machen solche Technikmonster Angst.«
»Du wirst dich eben an den Gedanken gewöhnen müssen, dass sich in deinem Leben noch vieles ändert. Wer weiß, vielleicht fliegen wir ja schon bald von Kontinent zu Kontinent.«
»Nun mach aber mal ‘nen Punkt, David!«
»Ich habe gerade vorhin am Pier eine Schlagzeile gelesen – einer der Wartenden hat mir seine Zeitung direkt unter die Nase gehalten. ›Jules Vernes Reise um die Welt kein Traum‹ hieß es da. Aus der Einleitung ging hervor, dass die Deutschen in ein paar Tagen eine Erdumrundung in einem Zeppelin versuchen wollen.«
»Du meinst, mit einer dieser fliegenden Zigarren? Das ist doch absurd, David!«
»Eine Frau soll auch mit dabei sein. Übrigens eine Reporterkollegin von mir. Lady Drummond-Hay, wenn ich mich recht entsinne.«
»Dann klappt das Unternehmen bestimmt.« David beäugte seine Frau wie eine gänzlich Unbekannte. Schließlich warf er in gespielter Empörung die Arme in die Luft. »Das gibts ja nicht! Ich habe eine Frauenrechtlerin geheiratet.«
Beide fingen an zu lachen. Ein in der Nähe stehender Passagier schüttelte entrüstet den Kopf und suchte sich einen ruhigeren Relingplatz am Heck der Misogi.
Wie von Rebekka geraten, telegrafierte David noch am Nachmittag ihrer Abreise nach New York. Die Antwort kam am nächsten Tag: Briton Haddens Gesundheitszustand war unverändert ernst. Aber er lebte. Der Mitherausgeber des Time-Magazins war für David mehr als nur ein wohlgesinnter Förderer. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die Davids Vertrauen besaßen, sogar seine Lebensgeschichte kannten (wenigstens den größten Teil davon).
Letzteres bereitete David Sorgen. Nicht weil er Brit misstraute. Ganz im Gegenteil. Er fürchtete, seinem Freund könne es ebenso ergehen wie Yoshi. Dessen Tod hatte bewiesen, dass die Opfer des Geheimzirkels nicht immer an einem verkrümmten Rücken zu erkennen waren. Warum sollte sich der Kreis der Dämmerung für Brit nicht eine heimtückische Krankheit ausgesucht haben?
Mit solchen Gedanken im Kopf fiel es David schwer, Geduld zu bewahren und die Reise zu genießen. Er wünschte, an Bord eines dieser neuen Flugboote zu sein, die über zweihundert Stundenkilometer schnell durch die Luft schossen. Leider musste er sich mit einem nur mäßig flotten Dampfer begnügen, dessen Name noch dazu an einen beschaulichen shintoistischen Reinigungsritus erinnerte.
Um sich abzulenken, vertiefte David sich einmal mehr in die Lektüre des väterlichen Diariums. Manchmal – wenn Rebekka ihm dazu Gelegenheit gab – saß er auch einfach nur in der Kabine und ließ Bilder der Erinnerung an sich vorüberziehen. Wenn ihn dann irgendein Ereignis in die Wirklichkeit zurückholte, hielt er manchmal den Abschiedsbrief von Johannes Nogielsky in der Hand, ohne zu wissen, wie der Umschlag dort hingekommen war. David las die Zeilen nicht mehr, die der junge Mann einstmals an seine Mutter geschrieben hatte. Zu viele Schmerzen bereitete ihm diese Erinnerung. Hoffentlich konnte er irgendwann das Versprechen einlösen, das er dem sterbenden Soldaten gegeben hatte.
Nach sechs Tagen gingen die Murrays in Honolulu von Bord. Die Schönheiten Hawaiis blieben ihnen jedoch verwehrt. Sie verbrachten nur eine Nacht im Hotel und setzten schon am kommenden Morgen ihre Reise fort. Die Maid of the Mist war ein stattlicher Dampfer von immerhin dreißigtausend Tonnen. Es gab weitaus größere Schiffe, aber David war dennoch dankbar dafür, dass der amerikanische Liner einige Knoten mehr machte als
Weitere Kostenlose Bücher