Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
Als er am Abend seinen Hochsitz in der Gelben Festung betrat, saß Lorenzo vor dem Fernseher. Nikita Chruschtschow hämmerte gerade vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit seinem Schuh auf das Rednerpult ein.
»Irgendwas Neues?«, fragte David, nachdem man sich gebührend umarmt hatte.
»Alles wie gehabt. Kennedy macht Nixon im Wahlkampf das Leben schwer, dieser Chruschtschow stellt New York auf den Kopf, aber ansonsten treten wir auf der Stelle.«
In diesem Moment kam Ruben herein. Er war sichtlich aufgeregt. »Warum hast du mir das nicht gezeigt?«
»Sei gegrüßt, Ruben. Ich freue mich auch, dich wieder zu sehen.«
Der Maler kam vor David zum Stehen. »Ja, ja. Guten Tag. Wie war’s in Kuba? Ich müsste dir ernstlich böse sein.«
»Weshalb denn?«
»Weil du mich wie ein mittelalterlicher Feudalherr das letzte Geld aus deinen Künstleruntertanen pressen lässt, während du in selbigem schwimmst.«
David blinzelte verwirrt. Ein kurzer Blickwechsel mit Lorenzo diente allein dem Austausch von Ratlosigkeit. »Aber hattest du nicht neulich erst gesagt, unsere flüssigen Mittel seien schon wieder dabei, sich zu verflüssigen?«
»Bei deinem exzentrischen Lebensstil ist das ja auch kein Wunder. Aber vermutlich hast du die ganze Zeit von dem Karton gewusst.«
»Was für ein…« David ging zum Fernsehgerät, aus dem lautes Kreischen tönte – weibliche Fans untermalten einen Auftritt von Elvis Presley.
»Ich rede von den Wertpapieren, die du da hinter deinem Schreibtisch gelagert hast – den Aktien! «
»Beim Aufräumen ist mir die Kiste in die Hände gefallen«, sagte mit einem Mal Lorenzo schuldbewusst. »Da habe ich sie Ruben aufgeladen und ihn gebeten, sie in den Müll zu werfen. Du wolltest doch nicht wirklich deine Wände…«
»Ach was!«, wehrte David ab, um sich gleich wieder Ruben zuzuwenden. »Und nun hast du unter dem Kram noch irgendwas von Wert gefunden?«
»Kram?«, japste Ruben. »Irgendwas?« Er täuschte einen Herzanfall vor. Ziemlich überzeugend sogar. »Die Papiere sind ein Vermögen wert. Na gut, nicht alle, aber der Rest dürfte wohl reichen, um deine Unternehmungen bis zum Ende des Jahrtausends zu finanzieren.«
Nun brauchte David doch etwas länger, um die Worte seines Finanzberaters zu verdauen. Ruben schien nicht zum Scherzen zumute zu sein. »Aber haben die Aktien nicht während der schwarzen Tage an der Wallstreet ihren gesamten Wert verloren?«
»Sie waren nicht einmal das Papier wert, auf dem man sie gedruckt hatte. Aber du scheinst dich nie dafür interessiert zu haben, was aus all den angeschlagenen Firmen geworden ist, an denen du Anteile hältst.«
»Sie sind nicht Pleite gegangen?«, versuchte David einen Schuss ins Blaue.
Der Maler schüttelte den Kopf und grinste dabei unverschämt David zuckte die Achseln. »Tja, ich war eigentlich schon immer der Ansicht, dass sich im Leben nur die langfristigen Investitionen auszahlen.«
Lorenzo hatte gesagt, der Unterschied zwischen einem armen und einem reichen Menschen bestehe darin, dass der Reiche ein Armer mit einem Haufen Geld sei. So gesehen war David jetzt ziemlich arm dran. Sein »Kartonkapital« belief sich auf grob geschätzte einhundert Millionen Dollar. Ruben meinte, bei sachgerechter Pflege dürfte das Vermögen auch zukünftig erhalten bleiben. Allein mit den jährlichen Zinsen ließ sich schon einiges auf die Beine stellen.
Geld war von nun an in der Gelben Festung kein Thema mehr. Ruben verwaltete das wiederentdeckte Vermögen auf eine für einen Künstler höchst professionelle Weise. Er kaufte Immobilien – darunter ein Grundstück auf Staten Island –, investierte in viel versprechende Unternehmen und schichtete Wertpapiere nach den von ihm aufgestellten strengen Rentabilitäts- und Sicherheitskriterien um. Außerdem überwachte er mit erschreckender Knausrigkeit die Ausgaben der Nachrichtenagentur Truth.
Davids Reichtum in finanzieller Hinsicht stand seine Armut an Wissen gegenüber. Als Lorenzo sich zu den Dokumenten aus Ben Nedals Sturmpalast äußerte, sagte er: »Es steckt irgendetwas in diesem Papierstapel, aber ich kann es nicht greifen.«
Ein altbekanntes Gefühl für David. Obwohl er in den nächsten Monaten noch mehrmals nach Kuba reiste und viele neue Kontakte knüpfte, wollte ihm der entscheidende Durchbruch einfach nicht gelingen.
Mit der Wahl John F. Kennedys im November begann ein neuer Wind durch das Land zu wehen. Bis zur Vereidigung des fünfunddreißigsten
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