Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
seine eigene Schuld tragen, auch er. Die Berliner Blockade – und damit viele Menschenleben – gehen vermutlich auf sein Konto. Möglicherweise hat er auch bei der Kubakrise seine Finger im Spiel gehabt. Dafür soll sich auch dein Vater vor einem Gericht verantworten. Aber bevor es dazu kommt, muss ich mich selbst mit ihm unterhalten. Er besitzt ein für mich unschätzbares Wissen.«
Kims Gesicht wurde blass. »Du musst verrückt sein, David! Der Mörder meiner Mutter haust in einer uneinnehmbaren Festung. Ihm einen Besuch abzustatten ist eine Sache, aber ihn dort lebendig herauszuschaffen… Wie willst du das anstellen?«
»Ich hatte einmal einen Lehrer. Er gehörte dem Mossad an. Ihm verdanke ich den Sieg über Eichmann. Jetzt dürfte es an der Zeit sein, mein Gesellenstück abzulegen.«
Von der Terrasse des Hotels Armada hatte man einen atemberaubenden Blick über Istanbul. Im Norden ragten die Minarette der Blauen Moschee und der Hagia Sophia auf. Vom Marmarameer, das auf der Südseite nur durch eine breite Straße vom Hotel getrennt war, wehte ab und zu eine laue Brise herüber. Ohne dieses Lüftchen hätten David und seine Begleiterin die brütende Hitze trotz der Sonnenschirme kaum ertragen.
Nachdem er noch von Thassos aus in New York angerufen und verschlüsselte Informationen mit Lorenzo ausgetauscht hatte, waren sie umgehend in die Türkei gereist. Davids Chefanalytiker sollte in der Zwischenzeit Nachforschungen anstellen sowie die Operation Salzmann vorbereiten.
Der Bibliothekar im Kloster Iviron war in Hesychasts Schriften auf die Namen Melitene, Mazaka und Halys gestoßen. Die ersten beiden Namen standen für Städte, in denen sich der Bund von Bisutun zeitweilig versammelt hatte, und der letzte – Halys – für einen Fluss. Alle drei fehlten in den Atlanten und Karten, die im Kloster zu finden gewesen waren. Lorenzo hatte die Herausforderung mit Gelassenheit angenommen.
Inzwischen waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen und David stieß fast seinen Mokka um, als endlich ein Hotelpage mit einer kleinen Schiefertafel, auf der Davids Deckname stand, über die Terrasse lief und wie eine lädierte Schallplatte wiederholte: »Telefon für Mr Claymore, Telefon für Mister Claymore, Telefon…«
David brachte den jungen Mann mit einem Geldschein zum Verstummen, entschuldigte sich bei Kim und eilte zum Telefon. Es befand sich in einem Flur, der ständig von Kellnern frequentiert wurde.
»Marco?«
»Hi, Phil«, antwortete Lorenzo aus dem Hörer.
»Hast du etwas herausgefunden?«
»Wir kreisen das Gebiet ein. Offenbar hat unser Künstler seine Wirkungsstätten aus Kurdistan heraus immer weiter nach Westen verlagert. Melitene und Mazaka gehören beide zu einer alten assyrischen Handelskolonie namens Kappadokien…«
»Ist das nicht eine türkische Provinz?«
»Der Landstrich wird heute noch so genannt, stimmt. Melitene heißt mittlerweile Eski Malatiya und aus Mazaka, der ehemaligen Hauptstadt des Königreiches Kappadokien, ist das türkische Kayseri geworden. Den Fluss Halys kennt man inzwischen unter dem Namen Kizil beziehungsweise Kizilirmak…«
»Du bist ein Genie, Marco!«
»Wart’s ab, Phil. Der Kizil ist ziemlich lang. Ich habe noch keinen Schimmer, wo sich die Mulde der müden Magier befindet.«
»Die was? Ach so! Wie du weißt, wollen meine Begleiterin und ich zunächst einen der Galeristen unseres Künstlers aufsuchen… «
»Ich habe alles für dich vorbereitet.«
»Geht klar, Marco. Wenn wir den Mann antreffen, kann er uns vielleicht sagen, wann die nächste Ausstellung des Meisters stattfindet. Falls er sich über den genauen Ort ausschweigt, bist du der Einzige, der mich zur Mulde der müden Magier dirigieren kann. Meinst du, das wirst du schaffen?«
»Ich tue mein Bestes, Phil.«
»Natürlich. Sobald ich das Haus des Galeristen verlassen habe, rufe ich dich wieder an.«
»Geht in Ordnung. Ciao, Phil!«
»Ciao, hello.«
Als David den Hörer in die Gabel hängte, fragte eine Stimme hinter ihm: »Du bist ein Kunstliebhaber? Das hast du mir ja bisher verschwiegen.«
David drehte sich langsam zu Kim um. »Hättest du nicht auf der Terrasse warten können, bis ich zurückkomme?«
»Ich möchte gerne alles über dich wissen, David, aber ich habe das Gefühl, du verschweigst mir etwas.«
»Es sind schon Menschen gestorben, weil sie zu viel über mich wussten.«
Ein Ober drängte sich hinter Kim vorbei, was sie ganz nahe an David herantreten ließ. Sie reckte
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