Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
handelte es sich bei dem von Hesychast verfassten Kodex um eine lange Fahne aneinander genähter Pergamentbögen. Das Zimelium war ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter hoch und zusammengelegt nicht ganz zwanzig breit.
Kim Tong las sehr langsam. Als Klosterschülerin hatte sie in Altgriechisch zwar immer Bestnoten eingestrichen, aber eine mehr als tausendvierhundert Jahre alte Handschrift zu entziffern war eine ganz besondere Aufgabe. Johannes Hesychastes beschrieb in opulentem Stil eine Reise durch ein längst vergessenes Land. Er verwandte Ortsnamen, die den beiden nichts sagten. Zum Glück hatte David bei der Flucht aus dem Kloster sein Jackett mitgenommen, in dessen Brusttasche sich nicht nur persönliche Dokumente, sondern auch die Notizen aus der Bibliothek von Iviron befanden. So konnte er den ein oder anderen bereits von Andreas erwähnten Namen verifizieren und weitere seiner Liste hinzufügen.
Als die Sonne unterging, war bestenfalls ein Drittel der Handschrift übersetzt und David hatte nicht mehr gefunden als einige vage Andeutungen auf das Tal der Schlafenden Zauberer. Kim Tong, die nicht einmal genau wusste, worum es überhaupt ging, war etwas frustriert und klagte über Kopfschmerzen, eine Folge von Davids rüder Behandlung am Strand. Man beschloss, den Abend in einem nahe gelegenen Restaurant zu beschließen und mit dem Studium der Handschrift am nächsten Morgen fortzufahren. Um sechs Uhr in der Früh klopfte es an Davids Dachkammertür. Kim Tongs wispernde Stimme drang an sein Ohr. Ein Blick auf die Armbanduhr ließ David aufstöhnen. Das Essen vom Vorabend lag ihm noch schwer im Magen. Mühsam kämpfte er sich hoch. Da er sein Gepäck auf Athos zurückgelassen hatte, war er, was seine Nachtgarnitur betraf, nur wenig präsentabel. Er schlang sich also ein Laken um und öffnete.
Kim Tong sah sich einem altgriechischen Philosophen gegenüber, schmunzelte, enthielt sich aber sonst eines jeden Kommentars, »Können wir weitermachen?«, fragte sie putzmunter.
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
»Ich bin in einem Kloster aufgewachsen.«
»Das haben Sie, glaube ich, schon mehrfach erwähnt.«
»Nennen Sie mich doch einfach Kim, ja?«
»Na schön, Kim. Aber um acht hätten Sie mir dieses Angebot…«
»Und das ›Sie‹ lassen wir am besten auch gleich weg.«
»Meinetwegen. Darf ich mich noch anziehen?« Kim errötete. »Ich warte unten auf dich, Phil. Für das Frühstück habe ich schon gesorgt.«
»Äh, ich müsste Ihnen… Entschuldigung. Also, ich hätte dir da noch ein Geständnis zu machen, Kim. Eigentlich ist Phil Claymore nur eine Art Künstlername von mir.«
»Oh! Ich kenne mich mit den Gepflogenheiten amerikanischer Journalisten nicht so aus. Ist das üblich?«
»Bei mir schon. Du kannst mich David nennen.«
»David.« Kim lauschte mit geschürzten Lippen dem Klang des Namens nach und fragte dann: »David klingt gut. Und wie heißt du weiter?«
»Das verrate ich dir vielleicht später. Vorerst muss der Vorname genügen.«
Nach einer gründlichen Rasur – der Athos-Bart wurde komplett entfernt – frühstückten David und Kim, es gab süßes Gebäck und Tee, der hier tsai genannt wurde, und machten sich danach wieder an die Arbeit. Seite für Seite, Falz für Falz lasen sie sich durch Hesychasts Bericht. Immer öfter erwähnte der Mystiker jetzt das Tal der Schlafenden Zauberer. Jeden Moment erwarteten die beiden Schriftforscher lesend endlich das geheimnisvolle Gebiet zu erreichen, aber plötzlich – es war bereits später Nachmittag – stießen sie auf ein unerwartetes Hindernis.
Kim hob den Kopf und blickte überrascht in Davids Augen.
»Was ist?«
»Hier fehlt etwas. Jemand muss ein Stück aus dem Kodex herausgetrennt haben.« Die junge Frau deutete auf die Verbindungsstelle zwischen zwei Pergamentbögen. Jetzt fiel es auch David auf. Die Naht wirkte grob und unregelmäßig.
»Das gibt es doch nicht!«
Kims Augen verengten sich und sie zischte ein einzelnes Wort. »Archipenko!«
David hob fragend die Augenbrauen.
»Alexej Archipenko ist ein russisch-orthodoxer Geistlicher und der engste Berater Wladimirs.«
David schnaubte enttäuscht. »Dann ist er wohl, neben uns beiden, der Dritte im Bunde. Der Bibliothekar Andreas hat mir gegenüber von zwei Pilgern gesprochen, die sich in der letzten Zeit besonders für die Bibliothek von Iviron interessiert hätten.«
Tränen stiegen in Kims Augen, aber sie wischte sie schnell mit dem Handrücken weg. »Dann war also alles
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