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Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund

Titel: Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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das Kinn zu ihm hoch und fragte: »Willst du mich etwa umbringen?«
    »Unsinn!« David trat einen Schritt zur Seite und sagte im Flüsterton: »Der ›Künstler‹ – du weißt, ich spreche von Belial – hat schon mehrere Menschen ermordet, die mir sehr nahe standen.«
    »Ist das der Grund, weshalb du mir gegenüber so auf Distanz bedacht bist?«
    Das Funkeln in Kims Augen gefiel David überhaupt nicht. Sie wird doch nicht … »Kim, ich bin verheiratet.«
    Das Mädchen rückte von David ab und beäugte ihn argwöhnisch. »Das fällt dir aber spät ein.«
    »Nun«, druckste David herum, »im Grunde genommen bin ich Witwer. Rebekka – das ist meine Frau – wurde von dem Meister der Schatten umgebracht.«
    Der Ausdruck in Kims Mandelaugen wurde wieder weicher. »Das tut mir sehr Leid, David. Entschuldige, wenn ich dich…«
    »Schon gut«, erwiderte David rasch und wechselte das für ihn so heikle Thema. »Mein New Yorker Freund hat mir eben berichtet, dass für unseren heimlichen Grenzübertritt alles vorbereitet ist.«
    »Das heißt, wir können morgen schon zum Galeristen Weiterreisen?«
    David nickte. »Zu deinem Vater, ja. Jeder Tag ist jetzt entscheidend.«
    Kim holte tief Luft. »Schade, ich hätte mir Istanbul an deiner Seite gerne noch etwas genauer angesehen.«
    David schenkte ihr einen kritischen Blick. »Das touristische Programm verschieben wir besser auf später. Jetzt ist Arbeit in der Salzmarsch angesagt.«
    Das hübsche Gesicht der zierlichen Eurasierin schien augenblicklich zu versteinern. »Das könnte allerdings eine ziemlich schmutzige Arbeit werden.«
    Das mittelalterlich anmutende Trapezunt war nicht nur die Heimatstadt des ersten Klostergründers von Athos, sondern auch die von Ali Urfa. Die beiden dürfen getrost als sehr unterschiedliche Männer bezeichnet werden. Während der byzantinische Mönch Athanassios sich dem geistigen Leben verschrieben hatte und sich deshalb im Jahre des Herrn 963 von Kaiser Nikephoros Phokas zur Gründung der Megistis Lavras nach Athos schicken ließ, galt Ali Urfas Sinnen und Trachten ganz der Versorgung sowjetischer Staatsbürger mit neuzeitlichen Luxusgütern aus dem Westen. Obwohl gut tausend Jahre zwischen den beiden Söhnen Trapezunts lagen, unterstützte jeder doch auf seine Art das Bündnis von David und Kim.
    Nur Athanassios von Trapezunt könne Kim ihren Vater ausliefern, hatte die Zofe Swetlana auf dem Sterbebett offenbart. Auch David hatte sich von den Handschriften des mittelalterlichen Mönchs in den Schatten des Heiligen Berges locken lassen. Und jetzt waren beide in Trabzon, wie Trapezunt inzwischen hieß, und warteten auf Ali Urfa.
    Sie saßen an der Promenade im Hafen der türkischen Schwarzmeerstadt, aßen Fisch und sahen den Möwen zu. Ali kam mit zweistündiger Verspätung, präsentierte in akzentschwerem Deutsch eine fadenscheinige Ausrede und strahlte über das ganze Gesicht.
    David hatte den Türken Mitte der Siebzigerjahre in Deutschland kennen gelernt. Damals strömten die Gastarbeiter aus Anatolien in hellen Scharen in das Wirtschaftswunderland zwischen Alpen und Nordsee. Weil Ali Urfa eine Allergie gegen geregelte Arbeitszeiten hatte, war er nach fünfjähriger Leidenszeit wieder in die Heimat zurückgekehrt, hatte sich von seinem Ersparten dort ein Haus und ein Boot gekauft und in der Schmugglerbranche eine neue Existenz gefunden. Mittlerweile kontrollierte er ein ganzes Netz von Hehlern und setzte sich selbst nur noch selten den Gefahren illegaler Grenzübertritte aus. Für David wollte er allerdings eine Ausnahme machen.
    Noch hatte David die Hoffnung nicht aufgegeben, seinen türkischen Freund, wie einst II und Kaeddong, eines Tages auf den rechten Weg zu bringen. Ali verehrte ihn aus irgendeinem Grund, was das Unterfangen nicht ganz aussichtslos erscheinen ließ.
    Ali Urfa kleidete sich berufsbedingt unauffällig: dunkelbraune Schiebermütze, lange braune Hose, beigefarbenes Hemd, dickes Wolljackett im Pfeffer-und-Salz-Muster (mittags über dem Arm getragen). Er ärgerte David gerne mit dem blauen Dunst seines »türkischen Krauts« (kurze Zigaretten aus heimischem Tabakanbau, die einen beißenden Gestank verbreiteten). Äußerlich wirkte er weder bedrohlich noch sonst irgendwie bemerkenswert. Er war ungefähr einen Meter siebzig groß, hager, enorm wortgewandt und mit einem impulsiven Wesen gesegnet. Mal saß er lethargisch auf einem Stuhl und sah aus wie die Skulptur eines zeitgenössischen türkischen Künstlers –

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