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Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund

Titel: Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sogar ins kapitalistische Ausland, offenbar häufig in die Türkei. Dank der weisen Vorsorge der Mutter, erklärte Kim Tong in wehmütigem Ton, sei sie nicht unvermögend. Mit Geld könne man sich in der Sowjetunion, wie wohl überall, fast alles und jeden kaufen: Genehmigungen des Patriarchen zur Einreise nach Athos, Reisepässe und andere falsche Papiere, falsche Bärte, falsche Freunde…
    »Und warum haben Sie den Kodex des Hesychast gestohlen?«
    »Er ist nur ausgeliehen«, widersprach Kim Tong energisch. »Ich werde ihn den Mönchen zurückschicken, sobald ich mein Werk vollbracht habe. Wladimir gibt sich als frommer Mann, müssen Sie wissen. Er spendet der russisch-orthodoxen Kirche große Beträge. Angeblich ist er selbst regelmäßig nach Athos gepilgert, damals, als es am Heiligen Berg noch russische Mönche gab. Swetlana – die Zofe meiner Mutter – hat mir auf dem Sterbebett anvertraut, Wladimir gehe einer exzentrischen Leidenschaft nach. Er halte in mehreren Athosklöstern wichtige Geschäftsgeheimnisse versteckt. Bevor Swetlana für immer die Augen schloss, hauchte sie noch: ›Nur Athanassios von Trapezunt kann dir deinen Vater ausliefern. ‹ «
    Kim Tong schüttelte sich, als spüre sie erst jetzt die frische Morgenbrise auf dem Meer.
    »Und woher hatte die Alte ihre Weisheit?«, fragte David skeptisch.
    »Je reicher die Leute, desto mehr Ohren haben ihre Häuser.«
    Die Drenia näherte sich endlich ihrem Heimathafen, und während sich David nach einem geeigneten Landeplatz umblickte, meinte er: »Und da haben Sie sich mit Ihrem Geld einfach zu einem Novizen gemacht und in Iviron eingeschlichen.«
    »Ich bin in einem Kloster aufgewachsen. Und weil die kinovitischen Prinzipien längst nicht so streng sind wie die Observanzen der regelversessenen katholischen Kleriker, hielt ich es nicht für allzu schwer, die Mönche zu täuschen.«
    David musste an den krausen Bart denken und lachte. »Das ist Ihnen ja ganz offensichtlich gelungen.« Aber gleich wurde er wieder ernst. »Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, Ihren Vater umzubringen?«
    »In der Heiligen Schrift wird Auge um Auge und Zahn um Zahn gefordert.«
    »So forderte es das mosaische Gesetz, und das auch nur bei einem von zwei oder drei Zeugen überführten Mörder. Für Christen ist dieser Grundsatz nicht mehr bindend. An anderer Stelle heißt es in der Schrift: ›Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.‹ Und: ›Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse stets mit dem Guten.‹«
    Das Motorboot fuhr knirschend auf Grund und David sprang ins seichte Wasser, um es mit der nächsten großen Welle weiter auf den Strand zu ziehen.
    »Erst schlagen Sie mich und dann spielen Sie den Heiligen?«, mokierte sich Kim Tong.
    David lächelte nachsichtig. »Sie haben Recht. Ein ›Heiliger‹ hat mich diese Worte gelehrt, aber ich bin noch lange nicht so weit. Dürfte ich Ihnen trotzdem an Land helfen, junge Dame?«
    Kim Tong errötete. Derartige Galanterien werden in einem Nonnenkloster eher selten geboten. Sie erhob sich und reichte David die Hand.
    »Bevor wir uns trennen, hätte ich noch eine Bitte«, sagte David, nachdem er das Boot an einem Pflock fest vertäut hatte. »Der Kodex, den sie sich… ›ausgeliehen‹ haben – mein Interesse an ihm ist zwar etwas anderer Natur als das Ihrige, aber wir könnten ihn trotzdem gemeinsam lesen. Ehrlich gesagt ist mein Altgriechisch ein wenig eingerostet.«
    Das Angebot schien Kim Tong nicht unangenehm zu sein. Sie lächelte ein wenig scheu, was sich in der Morgensonne besonders hübsch ausmachte, und erwiderte: »Ich habe ganz in der Nähe meinen Wagen geparkt.«
    Man konnte ja nicht wissen, welche Schlüsse die Mönche von Iviron aus dem gleichzeitigen Verschwinden des Novizen und des amerikanischen Journalisten ziehen würden. Zumindest den Außenbordmotor der Drenia mussten sie vernommen haben, als David mit Kim Tong aufs Meer hinaus geflohen war. Vielleicht suchte inzwischen die ganze griechische Polizei nach ihnen. Aber das Gästehaus in Thassos war winzig und der Wirt geschäftstüchtig. Von amtlichen Meldeformularen hielt er wenig. Sie bekamen im Olymp – so hieß die schlichte Herberge – zwei Zimmer.
    Nachdem sie sich mit Brot, Feta, Wasser und einem leichten mazedonischen Rotwein eingedeckt hatten, begann die Forschungsarbeit. Auf Kim Tongs Balkontisch (David war in einer Dachkammer untergebracht) wurde das wertvolle Buch von seiner Stoffummantelung befreit. Eigentlich

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