Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
genähert. »Was haben Sie eben gemeint? Ich konnte es nicht richtig verstehen.«
»Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch, Chatscha. Mir ist nur gerade etwas zu Golgotha eingefallen, der ›Schädelstätte‹, auf der Christus starb. Die Felsen hier in der Gegend besitzen ja alle möglichen Formen. Gibt es irgendwo auch einen, der wie ein Totenschädel aussieht?«
»Warten Sie… « Chatscha strich sich erst über die linke, dann über die rechte Seite seines buschigen Schnurrbartes. Dann stieg sein Zeigefinger wie eine Rakete hoch und er intonierte: »Ich hab’s! Sie meinen das Haus des Schwarzen Mönchs.«
David zog die Stirn kraus. »Tatsächlich?«
»Ja, es befindet sich ganz am nördlichen Ende des Geistertals. Der Schwarze Mönch war eigentlich ein Eremit. Er soll vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen pechschwarz gewesen sein, möglicherweise ein Nubier. Die Leute hielten ihn für einen Zauberer, deshalb steckten sie ihn an.«
»Sie meinen, sie haben ihn verbrannt?«
»Ja, die damals übliche Verfahrensweise im Umgang mit Hexern. Seitdem, heißt es, spuke sein Geist in der alten Felsenbehausung herum. Mit ihren Fenster- und Türöffnungen sieht sie tatsächlich wie ein Totenschädel aus. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«
David und Kim wechselten einen schnellen Blick. Weil es allmählich dunkel wurde, fuhren die drei mit dem Auto zum Nordende des Geistertals. Sie parkten und ließen sich von Chatscha zu einem seitlichen Einschnitt, einer Art Miniaturtal führen, das von der Straße her nicht eingesehen werden konnte. Schon nach ungefähr vierzig Metern endete die schmale Kluft und dort lag das Haus des Schwarzen Mönchs.
Die Unterkunft des ermordeten Eremiten duckte sich an die hohe Felswand. Tatsächlich glich sie einem nach oben spitz zulaufenden Schädel, der mit dem Kinn im Erdreich steckte. Deutlich waren die leeren Augenhöhlen, das ovale Nasenloch und die bogenförmige Öffnung der oberen Mundpartie zu erkennen. Abbruchstellen am Tuffsteinoberkiefer wirkten wie Lücken im Gebiss. Die einzelnen Teilnehmer der abendlichen Besichtigungsgruppe reagierten ganz unterschiedlich auf den extravaganten Geschmack des Schwarzen Mönchs. Alle zusammen waren sie in gebührendem Abstand zu dem Totenkopf stehen geblieben und gafften.
»Erstaunlich!«, murmelte David.
»Ekelhaft!«, urteilte Kim.
»Unheimlich, nicht wahr?«, freute sich Chatscha.
»Seit wann kennt man dieses Haus?«, fragte David.
»Es wird zum ersten Mal in einem Dokument aus dem späten Mittelalter erwähnt. Aber die Felsenhöhlen in der Gegend hier sollen schon seit sechstausend Jahren bewohnt sein. Deshalb nimmt man an, dass auch der Schädel schon wesentlich früher genutzt wurde.«
»Davon bin ich überzeugt. Ich muss mir diese nette Hütte einmal genauer ansehen.« David setzte sich wieder in Bewegung.
»Warte, ich komme mit«, sagte Kim, schloss schnell zu ihrem »Vater« auf und hakte sich Schutz suchend bei ihm ein.
»Ich kann ja in der Zwischenzeit hier warten«, schlug der Fremdenführer aus dem Hintergrund kleinlaut vor.
»Cha-Cha-Cha scheint sich vor dem Geist des Schwarzen Mönchs zu fürchten«, sagte Kim.
»Und du offenbar ebenso.«
»Glaubst du etwa nicht an böse Geister?«
»Doch schon, aber ein Freund hat mich davon überzeugt, dass es keine lebenden Toten oder so etwas sind, sondern«, nach dem passenden Begriff suchend, fiel David wieder Lorenzos Bericht über die kurdischen Yeziden ein, »gefallene Engel.«
»Gefallene…?«
»Pass auf, stoß dich nicht.«
Sie hatten den ungewöhnlich breiten »Mund« des Hauses erreicht. Wie jetzt aus der Nähe zu erkennen war, tat sich dahinter ein Raum auf, den man im weitesten Sinn als Veranda bezeichnen konnte: Man befand sich praktisch im Freien, war aber trotzdem durch ein Felsdach vor Regen geschützt. Vielleicht hatte der Schwarze Mönch hier früher die heiße Sommerzeit verbracht. Im Hintergrund war eine aus dem Fels geschlagene Treppe zu sehen.
David schaltete die mitgebrachte Taschenlampe ein und betrat den Schädel. Nach kurzer Inspektion des Mundraumes schloss er: »Also hier wird sich Belial mit seiner Belegschaft bestimmt nicht zusammensetzen: zu niedrig, zu eng und viel zu schmutzig. Ich schaue mir mal die Nasenhöhle an.«
Er stieg die geländerlose Treppe hinauf und zog dabei die in seinen Ärmel verkrallte Kim hinter sich her. Als sein Kopf ins erste Stockwerk vorstieß, flatterten einige aufgeschreckte Fledermäuse an ihnen vorbei, Kim stieß einen
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