Der Kreis der Sechs
ersten Tür zu ihrer Linken: 406. Es sah aus, als würde 424 weiter hinten in dieser Richtung sein. Ihr wurde klar, dass sie seit zwanzig Jahren das erste Mal wieder im Wohnheim eines Colleges war.
Während sie den stillen Gang hinabging, stellte sie sich die Studenten vor, die hinter den Türen ausgestreckt dalagen und ihren Kater ausschliefen oder erschöpft waren von durchgemachten Nächten während der Woche. Die Betonziegelwände des Korridors waren vollgekleistert mit Ankündigungen, unter anderem Flugblättern, die baten: »Helft uns, Lily zu finden!!« Als Phoebe die 424 erreichte, sah sie, dass da eine provisorische Papiertasche an die Tür geklebt worden war, mit Dutzenden von Flyern darin, offensichtlich dafür gedacht, dass Leute sie sich nahmen und sie verteilten. Sie pochte mehrmals leicht gegen die Tür. Sie dachte, dass sie drinnen jemanden sich rühren hörte. Als sie ihre Hand hob, um noch einmal zu klopfen, öffnete die Tür sich teilweise und zeigte das Gesicht einer jungen Frau.
Phoebe hatte Lilys Mitbewohnerin in der vorigen Nacht nur aus der Ferne gesehen, und aus der Nähe überraschte sie das Aussehen des Mädchens. In Lyle zogen die hübschen Mädchen in Rudeln umher, und sie hatte erwartet, dass Lily mit jemandem zusammen wohnte, der genauso attraktiv war wie sie. Doch ihre Zimmergenossin war beinahe unansehnlich, mit einem breiten, flachen Gesicht, tiefliegenden braunen Augen und schulterlangen braunen Haaren, die zu einer strukturierten Innenrolle gestylt worden waren, die aus einer anderen Ära zu stammen schien.
»Amanda?«, fragte Phoebe, als das Mädchen sie verwirrt anstarrte.
»Ja?«
»Mein Name ist Phoebe Hall. Ich bin Teil eines Teams an der Schule, das sich mit Lilys Verschwinden befasst. Darf ich hereinkommen?«
»Was ist los?«, fragte Amanda beunruhigt. »Haben sie sie gefunden?«
»Nein, noch nicht. Aber ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Ich habe bereits mit der Polizei gesprochen, wissen Sie. Ich habe ihnen alles erzählt.«
»Ja, ich bin sicher, dass Sie sehr hilfreich waren. Aber das College muss seine eigenen Nachforschungen anstellen. Wir wollen jeden Stein umdrehen.«
»Okay«, sagte das Mädchen, nachdem sie einen Moment gezögert hatte. »Wollen Sie hereinkommen? Tut mir leid … in unserem Zimmer sieht es ziemlich chaotisch aus.«
Das erwies sich als die Untertreibung des Jahrhunderts. Phoebe trat in einen Raum, der aussah, als hätte er auf der Durchgangsschneise eines Tornados gelegen. Die zwei Betten, mit zerknüllten Laken und an den Seiten heraushängenden Bettdecken, standen auf Pfosten, sodass die Schreibtische und Kommoden darunter passten, und jeder Zentimeter zusätzlicher Raum darunter war angefüllt mit zusammengeknüllter Kleidung, aufgeklappten Büchern und Magazinen, Plastikgeschirr, Getränkedosen und plattgedrückten Kekspackungen. Alle Oberflächen in dem Raum – Schreibtischplatten, Kommodenablagen und Fensterbänke – waren ebenfalls bedeckt, mit weiteren Büchern, Tamponverpackungen und Jumboplastikflaschen mit Shampoo und Handcreme. Eine Seite des Zimmers schien besonders unordentlich zu sein. Phoebe wurde klar, dass es Lilys Seite sein musste, da die Polizei sie vermutlich durchsucht hatte.
»Möchten Sie sich setzen?«, fragte Amanda und zeigte auf ihren Schreibtischstuhl.
»Großartig, danke«, sagte Phoebe und knöpfte ihren Mantel auf. Während Phoebe Platz nahm, hockte sich Amanda mit gekreuzten Beinen auf einen schwammartig aussehenden Läufer mitten auf dem Boden und zog ihre Knie unter ihrem verblassten Lyle-College-T-Shirt zu sich heran. Die Luft roch, wie Phoebe bemerkte, undeutlich nach verschimmelten Handtüchern.
»Ich nehme an, dass die Polizei Lilys Sachen durchsucht hat.«
»Ja. Und sie haben gestern Abend etwas von ihrem Zeug mitgenommen – wie ihren Laptop und ihre Notizbücher. Ihre Eltern sind gleich heute Morgen vorbeigekommen. Sie haben einfach nur ein paar Minuten hier gestanden und sind dann gegangen. Sie sind irgendwie total ausgeflippt.«
»Das glaube ich«, sagte Phoebe. »Es muss so furchtbar für sie sein. Und auch für Sie muss es furchtbar sein, Amanda. Ich hatte vor Jahren eine Freundin, die verschwand, und das Warten war unerträglich.«
Das war eine leichte Übertreibung. Doch es gab mehrere Strategien, die Phoebe wieder und wieder benutzte, wenn sie Leute befragte. Die erste war: Finde eine Gemeinsamkeit mit der Person.
»Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen«, sagte
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