Der Kreis der Sechs
den Bürgersteig vor Glendas Haus entlangeilte, war da eine Mischung verschiedener Gefühle, die in Phoebe rumorten. Da war Besorgnis – wegen Glenda, und was auch immer für Kopfschmerzen diese Situation ihr bereiten könnte, aber hauptsächlich wegen Lily. War das Mädchen einfach weggegangen, um einem Schlamassel zu entkommen, wie sie es ausgedrückt hatte? Oder war ihr etwas Schreckliches zugestoßen, nachdem sie die Bar verlassen hatte?
Und da war außerdem Unbehagen. Das Bedürfnis zu wissen hatte sie erfasst, wie das bei ihrer Arbeit so oft geschah, doch dieses Mal würde sie, indem sie Erkundigungen über die Sechsen einholte, ein Terrain betreten, von dem sie sich geschworen hatte, dass sie sich ihm nie wieder nähern würde.
Sie schob ihre Hände in ihre Taschen, um sie vor dem Wind zu schützen, der plötzlich aufgefrischt hatte. Eine Hand streifte ein Stück Papier, und Phoebe wurde klar, dass es das Flugblatt war, das sie von dem Baum gerissen hatte. Sie zog es aus ihrer Tasche und glättete es.
Als sie darauf starrte, begriff sie plötzlich, dass es kein G war, das über Lilys Gesicht gekritzelt worden war. Es war die Zahl Sechs.
Zurückblickend war es im Januar, als sie das erste Mal spürte, dass sie in irgendeiner Art von Schwierigkeiten steckte.
Die Schule war unter einem halben Meter Schnee begraben, und allen auf dem Campus schien die Decke auf den Kopf zu fallen, alle waren verdrießlich von endlosen Hausarbeiten, durchweichten Stiefeln und der beißenden Kälte. Doch nichts davon hatte sie gestört. Sie liebte das Internat und alles, was damit zu tun hatte, besonders im Vergleich zu ihrer großen, weitläufigen Highschool. Für sie gab es nichts Vergnüglicheres, als gemütlich in einer Arbeitsnische in der Bibliothek zu sitzen und bei den gedämpften Geräuschen der Mädchen, die sich draußen etwas zuriefen, während sie über den Campus eilten, zu schreiben und zu lesen.
Die Arbeit war hart, aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte lauter glatte Einser in ihrem ersten Halbjahr bekommen, vier Gedichte in einem literarischen Magazin veröffentlicht und war im Gespräch für eine Stelle als Redakteurin der Zeitung. Es wurde geflüstert, dass sie eine sichere Kandidatin war. Sie hatte bereits jede Menge für die Zeitung geschrieben, und ihr Zeug musste kaum lektoriert werden.
Doch die Stelle ging an ein anderes Mädchen, eine, die kaum etwas zu der Zeitung beigetragen hatte. Es hatte wehgetan, das zu hören.
Sie versuchte, sich selbst Mut zu machen. Irgendwann würde wieder eine Stelle frei werden, sagte sie sich, und sie würde sich darum bewerben. Bis dahin würde sie einfach mehr Ideen beitragen, sogar noch mehr Texte schreiben.
Plötzlich jedoch wurden ihre Ideen für Geschichten routinemäßig abgelehnt, und sie bekam nur einen einzigen Auftrag in einem ganzen Monat – eine total lahme, kleine Story. Es war, als hätte sie sich bei jemandem unbeliebt gemacht.
Das Literaturmagazin für das zweite Vierteljahr kam heraus, und dieses Mal war nichts von ihr darin. Was habe ich falsch gemacht, fragte sie sich. Ihre Gedichte waren ihr so gut vorgekommen.
Und dann passierte die Sache mit der Arbeitsgruppe. Sie hatte sich einmal die Woche mit drei anderen Mädchen aus ihrem Kurs über amerikanische Geschichte getroffen, um sich auf die häufigen und furchtbaren unangekündigten Tests vorzubereiten, für die der Lehrer berühmt war. Eines Nachmittags erzählte ihr ein Mitglied der Gruppe, dass sie und die beiden anderen beschlossen hatten, die Gruppe aufzulösen und allein weiterzulernen. Doch eine Woche später stolperte sie über die drei, während sie in einem Aufenthaltsraum ohne sie arbeiteten. Es war, als hätten sie gewollt, dass sie sie sah. Sie hastete schnell vorbei, während das Blut ihr ins Gesicht stieg.
Die Leute haben aufgehört, mich zu mögen, wurde ihr mit einem schrecklichen Gefühl der Furcht klar. Und sie wusste nicht, warum.
3
Phoebe stopfte den Flyer zurück in ihre Tasche und hetzte über den Gehweg, ihre Gedanken rasten. War die gekritzelte Sechs ein Hinweis darauf, dass Lily zur Zielscheibe der Sechsen geworden war, fragte sich Phoebe. Sie sah die traurigen blauen Augen des Mädchens vor sich und spürte eine neue Welle der Sorge.
Phoebe hatte vorgehabt, an diesem Morgen mit dem Rad am Fluss entlang zu fahren, wie sie das an den meisten Samstagen und Sonntagen getan hatte, seit sie in Lyle angekommen war, doch sie verwarf diesen Plan, während sie zurück
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