Der Kreuzfahrer
dem Leben und aus ihrer Familie gerissen. Ich war zufällig nicht zu Hause, sondern auf Besuch bei Freunden in einem fünfzig Meilen entfernten Ort, und dieser Umstand hat mir wohl das Leben gerettet. Schon am nächsten Tag wurde der Mullah mit Steinen und Flüchen aus der Stadt gejagt. Juden wie Moslems wollten ihn nicht länger dulden, und die jungen Männer, die diese Greueltaten begangen hatten, unterwarfen sich freiwillig dem Urteil des Ältestenrats. Sie wurden schwer bestraft – die beiden Rädelsführer wurden hingerichtet, und allen anderen stach man ein Auge aus, als Strafe und Schandmal.
Trotz dieser Wiedergutmachung war die Stadt danach nicht mehr dieselbe. Die Saat des Hasses war ausgebracht, und sie keimte, bewässert von den Tränen der zerstörten Familien. Jene, deren Söhne nun halb blind waren, begannen, die Juden zu hassen. Die Juden, deren Freunde die jungen Männer getötet hatten, begannen, ihre moslemischen Nachbarn zu hassen und zu fürchten. Nachdem meine Familie ermordet worden war, konnte ich dort nicht mehr leben. Ich litt entsetzlich unter Schuldgefühlen: Wenn ich da gewesen wäre, hätte ich sie beschützen können, redete ich mir ein. Das stimmt natürlich nicht, und ein Teil von mir wusste das auch. Wäre ich zu Hause gewesen, so wäre ich mit meiner Familie gestorben. Doch ich fühlte die Schuld eines Menschen, der eine Katastrophe überlebt hat. Ich konnte nicht länger in dieser Stadt bleiben, also nahm ich das Geld, die Pferde und Kamele, alles, was mein Vater mir hinterlassen hatte, und zog in die Welt hinaus. Drei Jahre lang reiste ich durch Arabien und die benachbarten Länder. Ich besuchte Alexandria und Bagdad, Jerusalem und Mekka. Ich führte das Leben eines jungen Edelmanns, wie mein Vater es sich für mich gewünscht hatte. Prunkvoll und bequem reiste ich herum, stieg nur in den besten Häusern ab, gab ein Vermögen für Essen und Wein, Parfüm und Juwelen aus – bis mir eines Tages unausweichlich das Geld ausging. Da fand ich mich in Akkon wieder, einer christlichen Stadt an der Küste von Palästina, mittellos und ohne jegliche Vorstellung, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen sollte.«
Reuben schloss bei der Erinnerung kurz die Augen.
»Was habt Ihr also getan?«, fragte ich. Er seufzte.
»Du sollst wissen, dass ich mich dieser Sache schäme, Alan, und meine Lage rechtfertigt nicht, was ich getan habe, doch sie könnte es vielleicht erklären: Ich war noch zutiefst verzweifelt über den Tod meiner Eltern und wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Ich hatte keine Ziele und kein Geld, also wurde ich zum Wegelagerer – ein Räuber, der die reich beladenen Kamelkarawanen auf den Straßen von Outremer überfiel. In jenem Jahr nahm ich vielen Unschuldigen das Leben, und ich lernte die Geheimnisse der Wüste kennen. Doch bald widerte mich diese Lebensweise dermaßen an, dass ich mich als Wache für die Karawanen verdingte, die über die staubigen Pisten bis tief in den Süden nach al-Yaman zogen. Man könnte also sagen, dass hier der Wilderer zum Jagdaufseher wurde, der Geächtete zum Forstmann. Ich glaubte, indem ich die Kaufleute beschützte, die ich früher ausgeraubt hatte, könnte ich zumindest in Gottes Augen Wiedergutmachung für meine Sünden leisten. Nachdem ich zwei Jahre lang Karawanenstaub gefressen und Straßenräuber verjagt hatte – von denen sich viele als Christen bezeichneten, möchte ich hinzufügen –, zwei Jahre lang von Sätteln wund gescheuert und von Durst und schlecht heilenden Wunden gequält worden war, hatte ich auch dieses Leben satt. Zufällig befand ich mich wieder einmal in Akkon, ohne Anstellung, ohne Ziel, und ruhte im Schatten eines wunderschönen Gartens mit säuberlich geschnittenem Rasen und getrimmten Orangenbäumen, die ihren Duft verströmten. Er war so grün, so wohltuend. Ganz in meiner Nähe sprudelte ein Springbrunnen, und ich spürte eine tiefe Ruhe. Ich konnte christliche Mönche singen hören, und es klang wunderschön, rein und fromm, obwohl ich dir versichern kann, dass ich nie in Versuchung geraten bin, den Glauben meiner Vorväter abzulegen. Doch ich gestehe, dass ich mich in jenem christlichen Garten Gott nahe fühlte. Die Erkenntnis, die mir dann kam, als ich auf meine Füße hinabblickte – sie waren schmutzig, von Schwielen, Schrunden und Narben entstellt, und der Riemen einer Sandale war zerrissen –, war allerdings von eher praktischer Natur. Ich wollte zwei Dinge im Leben: Ich wollte
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