Der Krieg am Ende der Welt
Gedächtnis zu rufen. Nach einer Weile fragte er ebenso leise zurück: »Sind damals in Custodia nicht alle umgekommen?« »Drei haben überlebt. Dom Matías, der sich im Dachstroh versteckt hat. Senhora Rosa, die sich von ihren Wunden erholt, aber den Verstand verloren hat. Und ich. Auch mich wollten sie töten, und ich bin wieder gesund geworden.« Sie sprachen, als handele es sich um andere Menschen, um ein anderes, sehr armseliges Leben. »Wie alt waren Sie«, fragte der Cangaceiro. »Zehn oder zwölf«, sagte sie. João Abade sah sie an: sie mußte noch sehr jung sein, aber Hunger und Leiden hatten sie alt gemacht. Immer noch ganz leise, um die anderen Pilger nicht zu wecken, erzählten sie sich in tiefem Ernst die Einzelheiten jener Nacht, die ihnen noch lebhaft im Gedächtnis stand. Sie war von drei Männern vergewaltigt worden, dann hatte sie niederknien müssen vor einer nach Kuhmist stinkenden Hose, und zwei schwielige Hände hatten ihr ein Glied in den Mund gestoßen, so dick, daß es kaum hineinpaßte, und sie hatte daran saugen müssen, bis sich ein Schub Samen in sie entlud, den ihr der Mann hinunterzuschlucken befahl. Als einer der Männer das Jagdmesser in sie stieß, fühlte Catarina eine große Gelassenheit. »Bin ich es gewesen?« flüsterte João Abade. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich konnte die Gesichter nicht mehr unterscheiden, obwohl es Tag war, und wußte nicht mehr, wo ich war.«
Seit dieser Nacht pflegten der ehemalige Cangaceiro und die Überlebende von Custodia gemeinsam zu beten und zu gehen und sich Episoden aus jenem Leben zu erzählen, das ihnen jetzt unbegreiflich erschien. Catarina hatte sich dem Heiligen in einem Dorf in Sergipe angeschlossen, wo sie vom Betteln gelebt hatte. Sie war nach dem Ratgeber die schmächtigste unter den Pilgern, und eines Tages fiel sie unterwegs in Ohnmacht. João Abade nahm sie auf seine Arme und ging so den ganzen Tag mitihr, bis zur Abenddämmerung. Mehrere Tage lang trug er sie und er gab ihr auch die kleinen, angefeuchteten Bissen, die ihr Magen vertragen konnte. Nachts, wenn er dem Ratgeber zugehört hatte, erzählte er ihr, wie einem Kind, die Geschichten der Wandererzähler aus seiner Kinderzeit, die ihm jetzt in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückkamen – vielleicht, weil seine Seele die Reinheit der Kindheit wiedererlangt hatte. Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und Tage später stellte sie ihm mit ihrer wie verlorenen Stimme Fragen über die Sarazenen und Fierabras und Robert den Teufel, und er entdeckte, daß diese Phantasiegestalten ihr ebenso in Fleisch und Blut übergegangen waren wie ihm selbst.
Sie hatte sich erholt und ging wieder auf eigenen Füßen, als sich João Abade eines Nachts, zitternd vor Scham, vor allen Pilgern anklagte, er habe viele Male gewünscht, Catarina zu besitzen. Der Ratgeber rief Catarina und fragte sie, ob sie sich beleidigt fühle von dem, was sie eben gehört hatte. Sie schüttelte den Kopf. Da fragte sie der Ratgeber vor der schweigenden Runde, ob sie noch Groll hege wegen der Vorfälle in Custodia. Wieder verneinte sie. »Du bist gereinigt«, sagte der Ratgeber. Er ließ sie sich an den Händen nehmen und bat alle, für sie zum Vater zu beten. Eine Woche später traute sie der Pfarrer von Xique-Xique. Wie lange war das her? Vier oder fünf Jahre? Als João Abade sein Herz vom Laufen fast zerspringen fühlte, erkannte er endlich die Schatten der Jagunços auf den Hängen des Cambaio. Er hörte auf zu rennen und legte das letzte Stück in diesem kurzen, schnellen Trab zurück, in welchem er so lange durch die Welt gezogen war.
Eine Stunde später stand er neben João Grande und erzählte ihm die Neuigkeiten, während er frisches Wasser trank und einen Teller Mais aß. Sie waren allein, denn nachdem er allen die Ankunft eines Regiments verkündet hatte – keiner wußte, wieviel Mann das waren –, bat er die anderen wegzugehen. Wie immer war der ehemalige Sklave barfuß, in einer verwaschenen Hose und einem Hemd ohne Knöpfe, das seine behaarte Brust unbedeckt ließ. An seinem Gürtel, einem Strick, hingen ein Jagdmesser und eine Machete, auf dem Rücken trug er einen Karabiner und um den Hals zwei Reihen Kugeln. Als er hörte, daß zum Schutz des Ratgebers eine Katholische Wachmannschaft gebildet werden und er ihr Chef sein sollte, schüttelte er energisch den Kopf.
»Warum nicht«, fragte João Abade.
»Ich bin nicht würdig«, murmelte der Neger.
»Der Ratgeber sagt,
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