Der Krieg der Trolle
abgestützt. Von den Vorräten, die hier einst gelagert worden waren, gab es keine Spur mehr; vermutlich waren auch sie längst in den Bäuchen der Soldaten verschwunden.
Aber in einer Ecke lag noch ein Bündel. Camila trat vorsichtig näher. Was auf den ersten Blick wie ein Haufen Stoff gewirkt hatte, entpuppte sich nun als toter Körper. Eine grässliche Vermutung stieg in Camila auf. Dennoch streckte sie die Hand aus und drehte den Leichnam um.
Es war Gera. Oder zumindest das, was von ihr übrig war. Das Dämmerlicht verbarg die schlimmsten Wunden in dem geschundenen Gesicht. Camila strich ihr über das Haar, auch wenn die Geistseherin längst auf den Dunklen Pfaden wandelte und keine Berührung mehr spüren würde.
In der Dunkelheit liefen Camila Tränen über die Wangen, als sie die uralten Worte intonierte und die Geister um ihren Schutz für die Tote bat.
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A ls Natiole sie plötzlich umarmte, fühlte Artaynis sich unendlich erleichtert. Sie wusste nicht genau, was sie befürchtet hatte, als sie den jungen Voivoden erkannt hatte, aber die Möglichkeit, als Verräterin in einem Kerker der Feste Remis zu landen, war ihr plötzlich greifbar nah erschienen. Sie drückte Natiole an sich, während sie versuchte, im Kopf die Antworten auf all die Fragen zu finden, die er sicher hatte.
Doch zunächst meldete sich Natioles Begleiter mit einem verlegenen Husten zu Wort: » Ich nehme an, ihr kennt euch?«
Da sich Artaynis aus der Umarmung löste, trat der Sprecher in ihr Blickfeld. Er musste ungefähr so alt wie der Voivode sein, ein hübscher Bursche mit schwarzen Locken und dunklen Augen.
Natiole schüttelte den Kopf. » Radu, das hier ist Artaynis. Meine …« Seine Stimme geriet ins Stocken. Offenbar fiel es ihm schwer, zu erklären, wer und was sie war.
» Ich bin die Bojarin von Désa«, erwiderte sie ruhig. » Oder ich war es.«
» Ionnis’ Frau?« In der Stimme des jungen Mannes, den Natiole Radu genannt hatte, war das Misstrauen unüberhörbar. In seiner Rechten hielt er, noch immer angriffsbereit, ein kurzes Schwert. » Seid Ihr eine dyrische Meuchelmörderin? Ich habe so etwas schon einmal gehört.«
Artaynis schüttelte den Kopf, nicht sicher, ob sie zornig oder belustigt sein sollte. » Wenn, dann wäre ich ziemlich schlecht auf meinem Gebiet. Ich habe deinen Herrn gerade nicht getötet, obschon ich eine bessere Gelegenheit wohl kaum bekommen werde.«
Ein Plätschern ertönte, und alle drei wandten sich dem Geräusch zu, noch bevor Radu etwas erwidern konnte.
Ein älterer Mann tauchte neben dem Boot aus dem Wasser auf. » Voivode, seid Ihr das?«, rief er Natiole zu.
» Leise«, zischte Radu. » Und wer bist du?«
» Larkes, Herr.«
» Ein Fischer, der mich hierher gebracht hat«, erklärte Artaynis.
Natiole wandte sich an den Alten, dem die nächtliche Begegnung offenkundig die Sprache verschlagen hatte. » Du kannst weiterziehen, mein Freund«, sagte er. » Wir nehmen deine Passagierin von hier ab mit. Schulden wir dir etwas?«
» Ja, Herr. Ich meine, nein, Herr. Will sagen, die Geister mögen Euch beschützen. Sichere Wege.« Noch während er das murmelte, ging der Alte langsam auf sein Boot zu, drehte es um und schob es auf den Magy hinaus. Einen Augenblick später war er bereits verschwunden.
» Was, bei allen Geistern, machst du hier?«, platzte Natiole heraus. Er trat einen Schritt zurück und musterte Artaynis von Kopf bis Fuß.
» Ich bin vor Ionnis auf der Flucht«, antwortete sie schlicht. » Ich hätte nie gedacht, dass seine Armee schon so weit gekommen ist. Es ist eine lange Geschichte. Willst du wirklich, dass ich sie dir hier erzähle?«
Einen Moment lang zögerte Natiole, dann schüttelte er den Kopf. » Radu, steck das verdammte Schwert weg. Wir geben den beiden Soldaten Bescheid und kehren so schnell wie möglich nach Teremi zurück.«
Als sie endlich ins Innere der Stadt gelangt waren, zeigte sich bereits der erste Streifen Tageslicht am Horizont.
» Ich hoffe, ich kann dich hier hereinbringen, ohne gleich einen Aufruhr auszulösen«, murmelte Natiole, an Artaynis gewandt. Sie verstand sofort, was er meinte. Während Ionnis’ Truppen vor den Toren lagerten, würde er eine gute Erklärung dafür brauchen, dass sie jetzt hier war.
Sie zog sich die Kapuze ihres schäbigen Mantels über den Kopf, ein letztes Geschenk des Sonnenpriesters, der sie bei sich aufgenommen hatte. » Du musst niemandem verraten, dass ich es bin«, schlug sie vor.
Die Stadt und die Festung
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