Der Krieg der Trolle
Verteidiger mochten zwar dasselbe denken, doch sie konnten sich nicht darauf verlassen. Artaynis sah, wie sich die Männer und Frauen langsam auf ihre Posten zurückbegaben. Ihre Reihen hatten sich merklich gelichtet. Wo am Morgen zwei oder drei Soldaten zusammengestanden hatten, war jetzt oft nur noch einer übrig, und mancher Platz blieb ganz unbesetzt. Der Blutzoll war auf beiden Seiten hoch gewesen, da war Artaynis sicher, denn sie hatte gesehen, wie viele Angreifer gefallen waren. Aber anders als für die Männer und Frauen unter Natioles Banner gab es für Ionnis’ Krieger nach wie vor Verstärkung, die noch nicht müde und erschöpft von einem endlosen Tag der Schlacht war.
Es war nicht die erste Schlacht, deren Zeugin Artaynis wurde, aber ihre erzwungene Untätigkeit schien ihr immer unerträglicher zu werden.
Wenn die Nacht hereinbricht, kann Natiole vielleicht in die Festung zurückkehren. Möglicherweise gibt es ja unter den wlachkischen Geistsehern oder unter den Sonnenpriestern jemanden, der uns helfen kann. Und so Agdele will, finden wir einen Weg, die Magie zu brechen, die Ionnis in ihren Klauen hält, und können diesen entsetzlichen Bruderkrieg beenden.
Längst hatten sich die angreifenden Truppen jenseits der Felder wieder gesammelt. Ihre Feldzeichen waren stolz in die Höhe gereckt, und Artaynis glaubte, in der Ferne das Rabenbanner zu erkennen, unter dem Ionnis marschierte. Sie musste daran denken, wie es in Désa auf den Türmen geweht hatte. Sie schüttelte den Kopf. Das war nur wenige Wochen her. Dabei hatte sich in der kurzen Zeit ihr ganzes Leben verändert, und sie wusste nicht mehr, wohin es sie führen würde. Sie war so sicher gewesen, ihren Lebensweg zu kennen, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Doch nun ergab nichts mehr einen Sinn. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, dorthin, wo das Kind heranwuchs. Noch konnte sie es nicht fühlen, aber sie wusste, dass es da war. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was mit ihr und dem Kind geschehen würde, sollte Natiole diese Schlacht verlieren.
Der Himmel war nun in ein helles Gelb getaucht, das langsam dunkler wurde. Bald würde die Nacht hereinbrechen.
Weit in der Ferne erklang ein Hornsignal. Artaynis fröstelte, doch hatte das nichts mit dem kühlen Wind aus den Sorkaten zu tun, der endlich etwas Bewegung in die angestaute Hitze über Teremi brachte. Erneut stellten sich die Angreifer in Reihen auf, bereiteten sich auf einen weiteren Sturm vor. Ausgeruhte Krieger mischten sich unter die, die eben erst aus der Schlacht zurückgekehrt waren. Artaynis’ Mund wurde trocken, und Übelkeit ergriff von ihr Besitz.
» Nein«, flüsterte sie leise, als sich die Feinde in Bewegung setzten. Sie fühlte sich, als würde sie einem Duell zusehen, bei dem ein Kämpfer bereits taumelte und der andere nun zu einem alles vernichtenden Schlag ausholte.
Geschrei wehte zu ihr hoch, Befehle wurden gebrüllt, Pfeile geschossen. Das Sterben begann erneut, als Ionnis’ Truppen die Mauern erreichten.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung auf dem Fluss. Zwei große Lastkähne hatten sich aus dem Schatten des anderen Ufers gelöst, schienen herrenlos flussabwärts zu treiben. Doch der Eindruck täuschte. Unter ihren großen Abdeckplanen befanden sich Menschen. Krieger.
Hektisch blickte Artaynis zu den Kämpfenden auf den Mauern. Ionnis hatte für diesen letzten Angriff wirklich alles in die Schlacht geworfen. Seine sämtlichen Reserven rannten nun gegen die Bollwerke der Stadt an, ausgeruhte Krieger, die einen raschen Sieg herbeiführen wollten.
Niemand schien die Lastkähne zu bemerken. Und selbst wenn, stellten zwei Kähne kaum eine Bedrohung dar. Vor dem Hafen der Stadt waren große Ketten über den Magy gespannt, durch die kein Schiff hindurchkommen konnte. Die Masriden hatten diese Schwachstelle der Stadt schon vor Jahrzehnten abgesichert, so gut sie konnten. Die Ketten mit den gewaltigen Gliedern waren beste Zwergenarbeit, ebenso wie die Mechanismen in den Türmen, mit denen sie gesenkt und gehoben werden konnten.
Doch als Artaynis zu dem Tor im Westen blickte, konnte sie die Ketten nicht sehen. Sie blinzelte. Auch jetzt war da nichts. Ihre Knie wurden weich, als sie erkannte, welche Tragweite diese Entdeckung hatte.
Ohne darüber nachzudenken, rannte sie los, tauchte in das Zwielicht des Treppenhauses, sprang die Stufen hinab, drei, vier auf einmal. Sie lief durch den Korridor und den Eingangsaal der Feste, hastete über den Hof
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