Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
kräftemäßig weit überlegen war, und war deshalb wie immer auf Distanz bedacht. Die Frage lautete: Wie weit war er bereit zu gehen?
Ich wusste, ich hatte höchstens noch eine Chance. Langsam wanderte ich zur Seite, die Kette über dem Kopf. Ich ließ Wymer nicht mehr aus den Augen, und er folgte mir, Auge in Auge, den Revolver auf meine Brust gerichtet, um das Oktogon des Schwimmbeckens und stakste über meine Sachen, die am Beckenrad verteilt lagen.
„Du willst mich nicht auf dem Gewissen haben“, sagte ich. „Ich weiß, wie sich das anfühlt, und das willst du nicht.“
„Ich will, dass du die Kette weglegst und aus dem Wasser kommst“, sagte Wymer.
„Weshalb?“, fragte ich. „Wieso ist das so wichtig?“
Er spannte den Hahn. „Ich glaube, du weißt, warum.“
„Und du solltest wissen, dass mir keine Wahl bleibt.“
Ich machte einen letzten Schritt, und da sah ich sie in seinen Augen: seine eigenartige Angst, vielleicht vor mir, vielleicht vor dem, was nun geschehen könnte. Vielleicht glaubte er immer noch, wir wären Freunde, und ein Teil von ihm wollte mich nicht töten – er würde aber zulassen, dass es geschah.
Vielleicht war es dieses Zögern, was mich rettete, an dem auch sein Talent nichts ändern konnte. Ich glaube, wäre er nur ein weniger entschlossener gewesen, hätte er mich da besiegt.
Stattdessen folgte er mir.
Der Schraubenzieher lag auf einem der dunkelbraunen Mosaiksteine und war kaum zu erkennen. Ich bemerkte ihn auch nur, weil ich etwas tiefer stand. Wymer aber trat auf ihn, der Schraubenzieher rollte weg, und er schrak hoch wie eine Katze, der man an die Pfote fasst. Im selben Augenblick ließ ich die Kette vorschnellen. Ein Schuss löste sich, ging aber ins Leere. Die Kette schlang sich um Wymers Beine. Er schrie, ich zog, und er fiel ins Wasser.
Ich warf mich auf ihn, aber er tauchte weg und legte mir die Kette um den Hals. Dann zog er sie zusammen und drückte mich unter Wasser. Einen Moment lang war ich so verdutzt, dass ich die Orientierung verlor. Da waren nur das Wasser, der Schmerz in meinem Kehlkopf und in meiner Brust und das Dröhnen des Bluts in meinen Ohren.
Dann rammte ich ihm mit voller Wucht den Ellbogen in die Seite. Sofort ließ der Druck um meinen Hals nach. Ich befreite mich, packte ihn und verpasste ihm mehrere Kinnhaken. Ich wollte ihn nicht töten, aber ich war ziemlich ärgerlich.
Als er nur noch schlaff im Wasser hing, schleppte ich ihn zum Beckenrand und wuchtete ihn keuchend aus dem Schwimmbecken.
Ich hätte mich gerne einen Augenblick ausgeruht, aber wenn Wymer mich gefunden hatte, dann blieb mir nicht mehr viel Zeit. Außerdem könnte jemand den Schuss gehört haben, und ein einzelner Schuss im Schwimmbad klang schon etwas anders als eine Reihe von Schüssen auf dem Schießstand.
Ungeduldig befestigte ich die Kette unter Wasser am Haken und legte sie über die Rollen des Flaschenzugs. Dann montierte ich die Winde und stemmte mich fluchend dagegen.
Der geheime Panzerschrank der Sektion Cricket war ein Würfel von gut zwei Fuß Kantenlänge. Ihn gegen das Gewicht des Wassers nach oben zu wuchten war in etwa wie der Versuch, einen kleinen Schrank durch eine Wand zu ziehen. Ich suchte mit den Zehen so gut es ging Halt auf den Fliesen und drehte die Winde wie ein verdammter Sklave. Meine Muskeln spannten sich, und meine Adern traten hervor, als wollten sie platzen. Es gab einen Ruck, aber das war alles. Ich ließ los, atmete tief durch und wurde fast besinnungslos vor Schmerz. Dann drehte ich wieder, so stark ich konnte, bis Sternchen vor meinen Augen tanzten. Dann endlich hob sich die Oberseite des Kubus an. Ich spürte, ich zog nicht nur gegen das Wasser an, sondern auch gegen die Mechanik, die den Safe im Boden festhielt. Dann brach ein Widerstand entzwei, und der Kubus hob sich ein weiteres Stück empor, ehe er wieder festsaß.
Ich arretierte die Winde und tauchte, um nachzusehen. Ich hatte ihn etwa einen Fuß aus dem Boden gehoben. Noch ein Stückchen – dann konnte ich mich um die Schlösser kümmern.
Da setzte plötzlich ein lautes Tosen ein. Das Wasser um mich geriet in Aufruhr.
Jemand hatte die Pumpen aktiviert.
Ich blickte hoch, und durch das Wasser, flackernd wie eine Fata Morgana, sah ich zwei Beine am Beckenrand. Es waren nicht Wymers Beine.
Zögernd tauchte ich auf.
„Guten Tag“, sagte der Wicket-Keeper.
Es war seltsam, ihn da stehen zu sehen, außerhalb seines Arbeitszimmers, ohne den Schutz seines Schreibtischs.
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