Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
alldem. Stattdessen ließ ich sie gewähren und billigte nicht nur, dass sie den Koh-i-Noor unter den strengen Blicken der Königin und ihres Gemahls aus seinem Safe entnahmen, ich freute mich sogar darüber. Alles, was in diesen Minuten geschah, fühlte sich so ungeheuer richtig an, und gerne hätte ich geglaubt, dass alles, was ich tat, seine Richtigkeit hatte. Das war aber absurd, denn nichts hatte in diesen Stunden mehr seine Richtigkeit: Mein Partner hatte versucht, mich zu töten; meine Frau war an einen ausgestopften Elefanten gefesselt; der Admiral hatte uns alle betrogen; der Palast, in dem die Königin am nächsten Tag die Ausstellung eröffnen wollte, war dank der Sektion Cricket zum Schauplatz einer Verschwörung geworden; und ich war irgendwie Teil davon und im Begriff, mit einem Edelstein, der vielleicht der wertvollste Diamant der Welt, vielleicht aber auch etwas völlig anderes war ... ja, was eigentlich zu tun?
Den Palast zu öffnen, dachte ich und gluckste wie ein junger Fähnrich, der zum ersten Mal ein Lob seines Vorgesetzten erhält. Wem aber galt meine Loyalität, wenn mein vorgesetzter Offizier allem Anschein nach doppeltes Spiel trieb? Ich dachte daran, was Wymer gesagt hatte, und versuchte, mir nicht wie ein Verräter vorzukommen.
Mit einer fast tragikomischen Feierlichkeit nahmen wir die nächste Treppe nach oben. Ada kämpfte gegen ihre Fesseln an, als wir uns abwandten, aber sie rief nicht meinen Namen. Einen kurzen Moment lang blickten wir einander in die Augen, und ich versuchte, Zuversicht auszustrahlen; keine Ahnung, ob mir das gelang, und im nächsten Moment schaute ich nur noch nach oben, in Richtung des Transepts, und hatte Ada und alles andere vergessen.
Unter dem Transept schwebte die merkwürdige Konstruktion, unter der ich den Niederländer und die Inderin schon am Vortag erwischt hatte. Sie war mir während meiner ersten Runden im Palast aufgefallen, aber keiner der anderen Wachleute hatte mir erklären können, wozu das Gewirr aus Metallreifen und verästeltem Gestänge gut war. Ein alter Schotte hatte die Achseln gezuckt und getippt, dass man zur Eröffnung vielleicht etwas daran aufhängen wollte, und sein Kollege, ein untersetzter Junge mit einem starken Cockney-Akzent, hatte widersprochen und behauptet, es habe etwas mit der Statik des Palasts zu tun, aber selbst nicht gewusst, ob er mit „Statik“ nun die schiere Masse des Palasts oder die elektrische Leitfähigkeit seiner Eisenträger meinte. Für mich sah das Ding aus wie der fehlgeschlagene Versuch, einen Globus zu bauen, aufgespießt auf dem Essbesteck eines Riesen.
Dem Anschein nach hatten wir alle gründlich danebengelegen.
Wir bezogen um die Konstruktion herum Stellung wie Feldherren um ihren Schlachtplan. Der Niederländer kramte die Schatullen aus seinem Seesack, in denen sich die anderen Kristalle befanden. Als sei es die selbstverständlichste Sache auf der Welt, reichte er mir einen davon, und ich nahm ihn ohne zu zögern entgegen.
Wir hielten nun alle einen Stein in der Hand. Sie hatten fast die gleiche Größe – größer als alle anderen Kristalle, die ich während meiner Einsätze für Sektion Cricket gesehen hatte –, unterschieden sich jedoch im Detail. So war der Koh-i-Noor in den Händen der Inderin flacher und runder als der Stein, den der Niederländer für sich behalten hatte. Dieser war etwas länger als meiner, der mir wiederum etwas spitzer vorkam. In jedem Fall war die Formgebung verwirrend, fremd, einfach wie nichts, das man in der Auslage eines Londoner Juweliers sehen würde.
Wie wir da standen, die Steine in der Hand, geschah etwas Eigenartiges: Die Kristalle begannen, in einem schwachen, bläulichen Licht zu erstrahlen, das innerhalb weniger Sekunden deutlich heller wurde als der schwache Schein der Gaslaternen unter uns, die sich in der Weite des Palasts verloren, oder der Sterne über uns am Nachthimmel, der in diesen Minuten greifbar nahe schien. Zugleich meinte ich, ein Kribbeln in meiner Hand zu spüren, wie von einer schwachen elektrischen Ladung, das sich durch meinen ganzen Körper ausbreitete und eine seltsame Wärme an dem Ort hervorrief, an dem ich mein Talent verwahrte.
Meine Hand wurde schwer. Nicht von Müdigkeit, sondern als würde sie von einer magnetischen Kraft auf die Konstruktion herabgezwungen. Ich sah, dass es den anderen ähnlich ging: Die Inderin keuchte wie eine Kurtisane, der Niederländer zitterte wie ein Opiumkranker. Ich für meinen Teil glaubte, dem
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