Der Kugelfaenger
einem Job besteht, den du zum kotzen findest“, schnaubt sie vor Zorn kochend.
Evelyn blinzelt ungläubig und ist für einen Moment völlig aus dem Konzept. Die Wahrheit ist nämlich, dass ihre Tante recht hat, so schwer es ihr auch fällt, sich das einzugestehen. Sie hat völlig recht und zwar mit allem. Sie hat ihr versprochen, eine Lösung im Fall George zu finden. Ihren Job findet sie genau so zum kotzen, wie Catherine es gesagt hat. Und dass Catherine wieder normal werden soll, das hat sie auch so gemeint. Nur mit dem Ausspruch, dass es ihr egal wäre, welche Wünsche ihre Tante hat, damit liegt sie vollkommen daneben. Sie hat fast ihr gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht, sich vor allem nach ihrer Tante zu richten. Seit dem Tod ihres Onkels, ist das jetzt unablässig der Fall. Nicht, dass Evelyn das stören würde, im Gegenteil. Sie liebt ihre Tante und würde wirklich alles für sie tun. Aber die Behauptung Catherines, sie wäre ihr doch sowieso egal, lässt sie aus der Haut fahren.
„Du spinnst doch!“, brüllt Evelyn aus dem oberen Stockwerk nach unten. „Bin ich denn nur von Irren umgeben? Und ich habe noch nicht mal meinen Koffer gepackt!“ Sie knallt die Tür zu.
Catherine stampft hocherhobenen Hauptes davon und lässt die Wohnzimmertüre hinter sich ins Schloss fallen.
Jetzt hat Tom hautnah miterlebt, was passiert, wenn zwei geladene Luftschichten aufeinanderprallen: Donner der heftigen Sorte.
***
„Kannst du nicht doch einfach zu Hause bleiben?“ Catherine steht in Pantoffeln im Flur und sieht ihrer Nichte, die mit ihren Koffern schon auf dem Weg zur Haustür ist, zu. Sie bietet einen erbarmungswürdigen Anblick.
Nicht schon wieder, schießt es Evelyn durch den Kopf. Sie beachtet die Frage ihrer Tante gar nicht erst, sondern tut so, als wäre sie schwer beschäftigt, indem sie in ihrer Handtasche herumkramt. Sie will sich nicht noch einmal mit ihr streiten.
„Liebes“, sagt Catherine der Verzweiflung nahe und klammert sich an ihrem Geschirrtuch fest.
Nein, denkt Evelyn, nur nicht darauf reagieren. Sie muss sich ziemlich zusammenreißen, um ihr nichts Blödes zu entgegnen. Tom hat noch eben schnell das Badezimmer benutzt und ist nun auf dem Weg die Treppe nach unten.
„Aber Liebes …“, setzt Catherine erneut an und bricht wieder ab.
Evelyn wendet sich betont fröhlich ihrer Tante zu. „So, und jetzt wünsche ich dir ein paar schöne sturmfreie Tage …“
„Nein.“ Catherine verschränkt die Arme vor der Brust.
Evelyn ist irritiert. „Was heißt hier ‚nein’?“
„Nein heißt nein“, meint ihre Tante. „Das wird bestimmt nicht schön.“ Dann zieht sie beleidigt ab.
Evelyns Geduldsfaden ist nahe am Reißen. Wenn sie hier noch länger brauchen, dann ist der Flieger wirklich weg und Catherine hat ihr Ziel erreicht.
„George kommt in einer Stunde aus Surrey zurück. Okay?“, brüllt sie ihr über die Schulter hinterher. Dann öffnet sie die Haustür und möchte ihren Koffer auf die Veranda hieven, doch mitten in dieser Bewegung hält sie inne. Das einzige, das aus ihrem Mund kommt, ist ein entsetztes, lang gezogenes „Aaaah!“. Dann kracht der Koffer zu Boden und sie weicht zurück.
Tom ist in der nächsten Sekunde neben ihr, bereit, sie gegen alles und jeden zu verteidigen. Evelyn ist kreidebleich im Gesicht. Sie zittert leicht und starrt auf die Fußmatte vor ihren Füßen. Da sieht auch Tom zu Boden. Und was er da sieht, lässt seinen Magen einen Salto schlagen.
„Fuck!“ Er springt ebenfalls zur Seite und wendet angewidert den Kopf ab. Dann sieht er wieder zu Boden. Auf der Fußmatte vor der Haustür liegt ein totes Huhn. Und das ist nicht irgendein Huhn. Es ist Bess, Evelyns Lieblingshuhn. Das Blut ist weitestgehend schon angetrocknet. Dem Tier wurden die Füße und die Flügel gebrochen, wobei eines der Beine am Schenkel abgetrennt und neben den aufgeschlitzten Hals gelegt wurde. Die Augen wurden ihm ausgestochen. Dem Huhn wurde zusätzlich noch die Brust aufgeschlitzt, das Herz herausgenommen und neben den Körper gelegt. Im weit geöffneten Schnabel klemmt ein blutbespritzter Brief. Tom erkennt sofort, dass auf dem ehemals blütenweißen Kuvert kein einziger Buchstabe steht.
Sie stehen beide vor dem Tier und starren dieses grausige Arrangement stumm an.
„Ich glaube, mir wird schlecht“, sagt Evelyn schließlich monoton.
„Wollen Sie sich setzten?“ Tom fasst sie am Arm.
„Nein, danke, geht schon“, meint sie, aber am liebsten würde sie
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