Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
nicht so detailliert.
Das Seltsame daran ist der Umstand, dass Sie keinerlei Erinnerungen an Ihr eigenes Leben haben, aber das Sterben anderer Menschen scheinbar perfekt abrufen können. Ja, Sie durchleben sogar ihr Sterben.« Er lehnte sich vor, und zum ersten Mal, seit sie Jane Doe geworden war, schaute sie ihm in die Augen und fühlte sich nicht länger allein. » Wir müssen rausfinden, woher diese Erinnerungen kommen und auf welche Weise Sie sie abrufen.« Er blätterte in dem Manuskript, das über und über mit vollgekritzelten gelben Post-its beklebt war. » Es gibt da eine Theorie …« Plötzlich hielt er inne und wählte seine Worte mit Bedacht. » Darf ich ganz offen sprechen?«
» Ja, bitte.«
» So, wie ich das sehe, haben wir zwei Möglichkeiten. Der konventionelle Ansatz: Ich behandle es als rein psychologisches Problem und unterrichte Professor Fullelove darüber. Sie wird die anderen Psychiater in Kenntnis setzen, die dann versuchen werden, Ihre Psychose zu diagnostizieren, und einen Therapieplan für sie ausarbeiten. Die Sache ist: Ich bin nicht davon überzeugt, dass es sich dabei, einmal abgesehen von Ihrer Amnesie, um ein rein psychologisches Problem handelt. Und ich möchte Sie auf keinen Fall zu einer Freakshow machen.«
Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauer über den Rücken. » Ich fühle mich auch so schon wie ein Freak. Was ist die andere Möglichkeit?«
» Wir gehen davon aus, dass es mehr ist als ein rein psychologisches Problem, und unterhalten uns mit jemandem, der mehr Erfahrung auf dem Gebiet hat.« Er wedelte mit dem Manuskript. » Die Autorin von diesem Text hier hat eine Theorie, die alles erklären könnte. Auch wenn es, ehrlich gesagt, jeder normalen Logik widerspricht.«
» Genauso wie meine Halluzinationen.«
» Der Punkt ist«, fuhr Fox fort, » dass es vielleicht gar keine Halluzinationen sind. Genau genommen sind Halluzinationen Wahrnehmungen von Dingen ohne die entsprechenden Außenreize. Wenn aber diese Theorie hier stimmt, dann könnte es tatsächlich gewisse äußere Reize geben.«
Sie reckte den Hals, um die Überschrift des Aufsatzes zu lesen, in der Erwartung irgendeines psychiatrischen oder neurologischen Themas, doch die ersten Worte, die sie sah, überraschten sie. » Das Echo der Geschichte?«
» Wie schon gesagt, das geht über meinen Wissenshorizont hinaus. Ich würde gerne eine Nacht darüber schlafen und morgen mit der Autorin dieses Aufsatzes reden. Geben Sie mir die Erlaubnis, über Ihren Fall zu sprechen?«
» Kann ich mitkommen?«
Er überlegte einen kurzen Moment. » Wenn Sie möchten. Aber wir müssen diskret vorgehen. Ihr Gesicht ist im Moment in allen Nachrichten, und wir wollen nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf Sie ziehen.«
Sie zeigte auf das Manuskript. » Können wir der Autorin trauen?«
» Oh ja.« Er lächelte. » Ich würde ihr mein Leben anvertrauen.«
15
Während die untergehende Sonne den Willamette River in glühende Bronze tauchte, stand Karl Jordache in einer alten Lagerhalle in Old Town und betrachtete den Toten, der vor ihm auf dem Boden lag. Dabei war er nicht so sehr vom Anblick der Leiche schockiert als von der Geschwindigkeit, mit der dieser zweite Mord begangen worden war: Nach den Befunden der Pathologie war der Tod erst vor wenigen Stunden eingetreten, nur einen Tag nach dem Mord an Vega ein paar Blocks entfernt.
Der grauhaarige Tote lag auf dem Boden, die Beine gespreizt, die Arme auf dem Rücken gefesselt. Er trug ein blaues Damenkleid und hatte vier Stichwunden in der Brust. » Das Opfer heißt Josh Kovacs«, sagte Kostakis und kratzte sich an seiner kugelrunden Glatze. » Hatte früher mal die Finger im Prostitutions- und Drogengeschäft, bis er irgendwann zu viel von seinem eigenen Zeug genommen hat. Die letzten Jahre hat er als Säufer und Junkie in den Gassen entlang der Burnside gelebt. Der Tathergang ist anders als beim ersten Mal, aber es ist dieselbe Handschrift. Beide Opfer wurden ausgezogen und dann in Frauenkleider gesteckt, und beide wurden gefesselt und nach einem bestimmten Muster drapiert. Vince Vega trug Damenunterwäsche, und man hat ihm mit einem Jagdmesser die Kehle durchgeschnitten. Kovacs haben wir in einem blauen Kleid gefunden, und er hat vier Stichwunden. Das Messer war vermutlich dasselbe wie das, mit dem man Vega die Kehle durchgeschnitten hat. Anders als bei Vega haben wir kein Ketamin in Kovacs Blut gefunden, aber genug Beruhigungsmittel und Alkohol, so dass der Täter ihn
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