Der Kuß der Schlange
sehen kann, bloß, daß sie einen langen Rock trug, der durch die Scheißpfützen schleifte. Tja, und dann bin ich abgehauen, nach Hause, wo ich von meiner Alten gewaltig was zu hören gekriegt hab, von wegen zu spät zum Essen und so.«
»Tugend fragt nicht nach Belohnung, Ginge.«
»Na, das weiß ich nicht so recht«, verwahrte sich Ginge, »Sie wollen doch bestimmt wissen, wie hoch sich meine Bezahlung und die Demon Kings belaufen? Also, die Rechnung beläuft sich auf fünfzehn Pfund dreiundsechzig. Furchtbar, was das Scheißleben so kostet, nicht?«
Nun brauchte er wohl nicht mehr, entschied Wexford, als er den Hörer auflegte, über weitere Mittel und Wege nachzudenken, wie man den Mann im Bus verfolgte. Denn dieser Mann hatte den Bus immer nur bis zur U-Bahn-Station West Hampstead genommen, und diesen Sonntag war er zu Fuß gegangen, weil er einen Schirm bei sich hatte, und Schirme sind immer ein Problem im Bus. Jetzt mußte es möglich sein, Hathall zusammen mit seiner Freundin abzupassen und ihnen zur Dartmeet Avenue zu folgen.
»Ich habe noch vierzehn Tage Urlaub, die mir zustehen«, sagte er zu seiner Frau.
»Dir stehen noch ungefähr drei Monate zu, wenn man alles zusammenrechnet, was sich so über die Jahre angesammelt hat.«
»Ein bißchen davon werd ich jetzt nehmen. Sagen wir, nächste Woche.«
»Was, jetzt, im November? Dann müssen wir irgendwo in die Wärme fahren. Es heißt, Malta sei sehr schön im November.«
»Chelsea ist auch sehr schön im November, und dahin fahren wir.«
Als erstes machte er sich an seinem ersten sogenannten Urlaubstag mit einem bis dahin unbekannten Teil der Geographie Londons vertraut. Freitag, der 22. November, war ein schöner, sonniger Tag, dem Aussehen nach wie Juni, der Temperatur nach wie Januar. Was war also schöner, als mit dem Achtundzwanziger-Bus nach West Hampstead hinauszufahren? Howard hatte ihm gesagt, der kreuze auf seiner Route nach Wandsworth Bridge die King’s Road, es war also kein langer Fußmarsch von der Teresa Street zur nahegelegensten Haltestelle. Der Bus fuhr durch Fulham nach West Kensington hinein, einem Bezirk, an den er sich noch aus der Zeit erinnerte, als er Howard bei dem damaligen Fall geholfen hatte, und er erkannte zu seiner Befriedigung auch diverse vertraute Landmarken wieder. Bald jedoch war er auf unbekanntem Terrain, und es war ein sehr wechselndes und riesiges Terrain. Die gewaltigen Ausmaße Londons verblüfften ihn immer wieder. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, als er Ginge beim Herunterleiern der Haltestellen auf dieser Route unterbrochen hatte, wie lang die Liste insgesamt gewesen wäre. In seiner Naivität hatte er angenommen, Ginge hätte vielleicht noch ein oder zwei weitere Namen vor der Endstation genannt, in Wirklichkeit aber wären es noch ein Dutzend gewesen. Während der Schaffner in seinem singenden Tonfall ›Church Street‹, ›Notting Hill Gate‹, ›Pembridge Road‹ ausrief, war Wexford doch zunehmend erleichtert, daß Hathall den Bus nur bis West Hampstead genommen hatte.
Diese Station erreichten sie endlich nach einer dreiviertel Stunde. Der Bus fuhr weiter über eine Brücke, unter der Eisenbahnschienen hindurchführten, und dann an zwei weiteren Stationen auf der gegenüberliegenden Seite vorbei, von denen die eine West End Lane hieß und die andere ebenfalls West Hampstead, die aber zu einer Vorortlinie gehörte. Die ganze Zeit, seit sie Kilburn verlassen hatten, war es leicht bergan gegangen, und es ging auch weiter bergauf, als sie die enge, gewundene West End Lane entlangfuhren, bis sie West End Green erreichten. Wexford stieg aus. Die Luft war frisch hier, nicht bloß frisch im Vergleich zu der in Chelsea, sondern fast ebenso dieselfrei wie in Kingsmarkham. Etliche Male konsultierte er seinen Stadtplan. Die Dartmeet Avenue lag kaum dreihundert Meter weiter östlich, und das machte ihn etwas stutzig. Bestimmt konnte nämlich Hathall, wenn er hintenherum ging, die Station West Hampstead in fünf Minuten zu Fuß erreichen. Warum dann den Bus nehmen? Einerlei, Ginge hatte gesehen, daß er es tat. Vielleicht mochte er bloß nicht laufen.
Wexford fand die Dartmeet Avenue ohne Schwierigkeiten. Es war eine hügelige Straße wie die meisten hier in der Gegend. Sie war gesäumt von hübschen, hohen Häusern, meist aus rotem Backstein gebaut. Ein paar von ihnen waren jedoch modernisiert und verputzt worden, die Schiebefenster hatte man durch große, einteilige Glasfenster ersetzt. Hohe Bäume,
Weitere Kostenlose Bücher