Der Kuss Des Daemons
begreifen, dass ich es war, die neben ihm kniete. Ich konnte sehen, wie er sich anscheinend erleichtert entspannte und seine Schultern ein wenig herabsanken. Doch gleich darauf verkrampften sie sich wieder. »Komm mir nicht zu nah!«, verlangte er erschreckend heftig und wandte sich von mir ab.
Eine Sekunde blickte ich bestürzt auf ihn hinab. Gab er mir die Schuld an dem, was mein Onkel ihm angetan hatte?
Vorsichtig legte ich die Hand auf seine Schulter. Er spannte sich unter meiner Berührung noch mehr und versuchte ein Stück von mir wegzurutschen. »Bleib weg! Bitte!«, flehte er und vergrub den Kopf in den Armen, soweit es ihm mit seinen Fesseln möglich war. Die Kette kratzte über den Kaminrost. Beinahe glaubte ich etwas wie ein kehliges Grollen zu hören.
Ich presste die Lippen zu einem Strich zusammen, beugte mich über ihn und stützte mich auf seiner anderen Seite am Boden ab. »Du musst hier weg. Ich will dir helfen ...«
Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken und ich erstarrte. Julien hatte mit seinen gefesselten Händen mein Handgelenk gepackt. So fest, dass er mir wehtat. Dieses Mal war das Grollen deutlich zu hören. Ganz langsam wandte er mir das Gesicht zu. Bisher hatte ich nur all das Blut und die Abschürfungen gesehen, doch jetzt ... Seine Haut war nicht mehr bleich, sondern grau. Dunkle Ringe waren unter seinen Augen, deren Farbe sich zu einem tödlichen Schwarz gewandelt hatte, das in seiner Tiefe rot zu lodern schien. Mein Blick hing wie gebannt an seinen Eckzähnen. Sie schimmerten scharf, spitz und erschreckend viel länger, als ich sie jemals zuvor gesehen hatte. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus und weigerte sich dann, seinen alten Rhythmus wiederzufinden. Dass seine Oberlippe sich gehoben hatte und bebte wie bei einem Raubtier, das seine Beute witterte, machte es nicht besser.
»Begreifst du denn nicht? Ich habe in der Nacht, bevor ich dir alles erzählt habe, zuletzt getrunken. Ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann, wenn du mir zu nahe kommst.«
Juliens Worte waren flehentlich, doch seine Hände lockerten weder ihren Griff noch gaben sie mich frei, ganz so, als hätten sie plötzlich einen eigenen Willen. Ich merkte, dass ich zitterte. Seine Augen hingen an meinem Handgelenk, das höchstens zwanzig Zentimeter von seinem Mund entfernt war. Er leckte sich die Lippen. Selbst ich konnte die bläulichen Adern unter meiner Haut erkennen. Sein Atem kam in harten, abgehackten Stößen. Er hatte sich halb aufgerichtet, jetzt lehnte er sich ein kleines Stück vorwärts und öffnete den Mund ein wenig weiter. Im Licht der Taschenlampe schimmerten seine Reißzähne. Hilflos schluckte ich. Ich war ihm zu nahe gekommen.
»O Gott, Dawn!«
Unvermittelt ließ er mich los. Ohne mir selbst dessen bewusst zu sein, hatte ich mich, so weit ich nur konnte, in seinem Griff zurückgelehnt. Als er mich jetzt so jäh freigab, verlor ich das Gleichgewicht, stolperte rückwärts und wich hastig noch weiter zurück, nachdem ich es wiedergefunden hatte. Er streckte die Hände nach mir aus, als wollte er nach mir greifen, um mich zu stützen und zu verhindern, dass ich fiel - und würde es zugleich doch nicht noch einmal wagen. Mit einem Ausdruck der Qual auf dem Gesicht ließ er die Arme sinken. Das Rasseln seiner Fesseln riss mich aus meinem Schock. Vorsichtig wagte ich mich wieder näher an ihn heran. Er beobachtete mich wie ein in die Enge getriebenes Tier, doch gleichzeitig drang dieses entsetzliche Grollen abermals aus seiner Kehle.
»Dawn, bitte«, flehte er erneut. »Nicht!«
Entschieden schüttelte ich den Kopf. »Du musst hier weg. Glaubst du, du kannst gehen?«
Sein Blick ging zwischen mir und seinen Fesseln hin und her. In seiner Miene war nur zu deutlich zu lesen, dass er an meinem Verstand zweifelte. Meine Kehle war eng, als ich mich neben ihn kniete.
»Ich habe vor, dich hier irgendwie rauszubringen«, teilte ich ihm möglichst ruhig mit, dennoch zitterte mein Arm, als ich ihn Julien entgegenstreckte - die Innenseite meines Handgelenks nach oben. »Nimm, was du brauchst.«
Er starrte mich an. Eine Sekunde, zwei, drei, eine Ewigkeit. Dann wich er mit einem verzweifelten Laut vor mir zurück.
»Nein!«
»Julien, du musst ...«
»Nein! Begreifst du denn immer noch nicht? In meinem Zustand ... Der Durst ist zu stark! Ich weiß nicht ... Ich weiß
nicht, ob ich mich beherrschen kann. Ich weiß nicht, ob ich aufhören kann. Rechtzeitig! Ich könnte dich töten.«
»Aber du
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