Der Kuss Des Daemons
der Stadt raus wären.«
Ergeben seufzte ich. Julien schob mich sacht ein kleines Stückchen von sich, damit er mir ins Gesicht sehen konnte.
»Wir machen die Tour, sobald wir halbwegs gutes Wetter haben«, versprach er mir mit feierlichem Ernst.
Ich sollte zwei Tage darauf warten, dass er sein Versprechen einlöste, denn das Wetter schien sich ebenso gegen uns verschworen zu haben wie meine Freunde. Es regnete. Und wenn einmal keine schweren Tropfen aus den Wolken fielen, nieselte es ununterbrochen. Die kurzen Momente, in denen das Grau aufriss und die Sonne schwach bis zur Erde lugte, konnte man mühelos an zwei Händen abzählen.
Ich verbrachte jede freie Minute mit Julien. Wir unternahmen keine weiteren Ausflüge in die Cafeteria, sondern machten es uns mit einem Schachbrett in der Bibliothek gemütlich - ich verbotenerweise mit Limo und Schokoriegel, da Julien darauf bestand, dass ich irgendwann auch einmal etwas essen müsste. Nach der Schule absolvierte ich eine kurze Stippvisite zu Hause, zog mich um und fuhr hinaus zum Anwesen.
Während der Regen auf die Erde prasselte oder die Sonne bei den wenigen Gelegenheiten, in denen sie durch die Wolken brach, die Welt in eine Zauberlandschaft aus Nebel und Licht verwandelte, saßen wir auf der Veranda zum See hinaus und genossen einfach nur die Nähe des anderen. Wenn es kühl wurde oder ich zu frieren begann, zogen wir uns ins Wohnzimmer zurück und kuschelten uns auf Kissen und Decken vor den Kamin, in dem Julien dann jedes Mal Feuer machte. Wir erledigten zusammen unsere Hausaufgaben und ich stellte zu meinem Entsetzen fest, dass Julien ein ebensolches Mathegenie war wie Neal. Nur hatte er einen ganz anderen Ansatz. Für Neal bestand Mathematik aus Logik und Fakten - alles beweis-und errechenbar. Für Julien jedoch waren Zahlen ebenso Harmonie wie Musik. Und er war Musiker mit Leib und Seele.
Als ich ihn das erste Mal bat, für mich auf der Geige zu spielen, wich er mir aus. Doch schließlich gelang es mir, ihn zu überreden. Danach ließ er sich leichter dazu bewegen. Ich hatte nicht geahnt, dass man sich in Tönen so vollkommen verlieren konnte. Es war wie Magie. Die Zeit blieb stehen und ich versank in der Musik. Nicht eines der Stücke, die er spielte, kannte ich, aber als ich ihn fragte, von wem sie seien, schnaubte er nur. Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass sie von Julien selbst stammten. Er erklärte mir, es seien »nur«
Improvisationen gewesen, und er habe so gespielt, wie ihm die Musik eben in den Sinn gekommen sei. Nach dieser Offenbarung konnte ich seiner Mutter nur recht geben: Sein Vater musste das Geigenspiel beim Teufel gelernt und ihm diese Gabe weitervererbt haben.
In den Nächten träumte ich weiterhin von Julien. Doch er blieb nicht mehr am Fußende meines Bettes stehen oder auf seinem Rand und blickte auf mich herunter, sondern legte sich zu mir aufs Bett und nahm mich in den Arm, während ich schlief. Wenn ich erwachte, war ich stets allein und nichts deutete darauf hin, dass alles mehr als nur ein Traum sein könnte - sosehr ich es mir auch wünschte. Selbst wenn er versucht hätte, nachts zu mir zu kommen, gab es immer noch unsere Alarmanlage. Und dennoch: Seit ich von Julien träumte, wurde ich nicht mehr von Albträumen gequält.
Zwei Tage später riss der Himmel kurz nach der Mittagspause unvermittelt auf und überzog alles mit goldenem Licht. Als Julien mich in der nächsten Pause an der Saaltür erwartete und mit schief gelegtem Kopf ansah, musste er die Frage nicht mehr laut aussprechen. Wir beschlossen direkt nach der Schule loszufahren. Ich lieh mir sein Handy - meines hatte ich wie so oft vergessen; vermutlich steckte es in meiner anderen Jacke -, rief Ella an und sagte ihr, dass ich den Nachmittag mit Freunden verbringen und nicht nach Hause kommen würde, da wir bei dem schönen Wetter gleich zusammen loswollten. Sie war so überrumpelt, dass sie im ersten Moment nur ein verdattertes
»Ja natürlich« hervorbrachte. Ich ließ ihr keine Zeit, um richtig zu sich zu kommen, sondern wünschte ihr einen schönen Nachmittag und legte auf.
Die letzten Unterrichtsstunden zogen sich wie alter Kaugummi. Dennoch schaffte es selbst Susan nicht - die mich fragte, ob ich es mir nicht doch noch einmal mit ihrer Feier am Abend überlegen wollte -, mir die Laune zu verderben. Nach Schulschluss fuhren wir hinaus zum Anwesen. Wie immer ließ ich den Audi ein Stück entfernt in einer Seitenstraße stehen. Auch wenn das
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