Der Kuss des Greifen
hinter sich gelassen. So vergingen die Tage und Wochen. Immer nur Wasser zu sehen, schlug Lysandra inzwischen aufs Gemüt. Zumindest hatten sie laut Hiram mittlerweile über die Hälfte der Strecke zwischen dem Kontinent und den Zinninseln zurückgelegt.
Nachts ließen sie das Schaukeln des Schiffes und das gleichmäßige Plätschern der Wellen besser einschlafen. Häufig ruhte sie in Celtillos’ Armen, der möglicherweise doch ernstere Absichten hatte, sonst wäre er zudringlicher. Doch passten sie wirklich zusammen, sie, die Hellenin, und er, der boierische Barbar, zwei Feinde, die aufeinander angewiesen waren? Außerdem musste sie zurück nach Delphoí. Ungewiss war, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
Auch in dieser Nacht träumte Lysandra von Cel, wie er sie zärtlich liebte, doch abrupt endete die schöne Vision, als sie einen Ruck verspürte, der ihr durch und durch ging. Lysandra schlug die Augen auf und starrte in die Finsternis, aus der sich langsam Konturen herausschälten.
Sie vernahm hektische Schritte an Deck. Die Phönizier sprachen wild durcheinander. Noch immer konnte Lysandra die Sprache, die ihrer eigenen so fremd war, kaum verstehen, doch der Ton verriet eindeutig Panik.
Abrupt setzte sie sich auf. Cel war bereits an ihrer Seite.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
Er hob die Achseln. »Das werden wir herausfinden.«
Sie gingen zur Reling. Dort kam ihnen ein aufgeregter Hiram entgegen.
»Bei Baal, ein Seeungeheuer greift uns an!«
Schnell griffen sie zu ihren Waffen. Angestrengt starrte Lysandra aufs Meer hinaus. Glücklicherweise schien der Mond hell, sodass sie recht weit sehen konnte. Ein großer Schatten näherte sich ihnen. Es war ein riesiger Hai!
»Er schwimmt direkt auf uns zu«, sagte einer der Männer aus der Mannschaft.
Der Fisch rammte das Schiff. Belzzasar fluchte und zückte Pfeil und Bogen. »Er verhält sich völlig unnatürlich. Normalerweise greifen die nicht einfach so Schiffe an noch rammen sie diese. Unser Schiff ist zu groß, um in ihr Beuteschema zu passen«, sagte er. Die Pfeile, die er geschossen hatte, waren völlig wirkungslos.
Hiram sah ihn betroffen an. »Ich weiß, doch was ist schon gewöhnlich auf unserer Reise?« Dabei warf er einen bedeutungsschweren Blick zu Cel.
Belzzasar stöhnte. »Ich befürchte, höhere Mächte haben sich gegen uns verschworen.«
»Es hat keinen Nutzen für uns, wenn wir uns selbst Angst einreden«, sagte Cel. »Solange Leben in unseren Leibern ist, werden wir kämpfen.« Er warf einen Speer, als der Hai seitlich abdrehte. Der Speer drang nur leicht in das Fleisch des Tieres ein. Blut sprudelte aus der Wunde, doch sie schien ihm nur wenig anzuhaben. Auf jeden Fall hatte das offensichtlich seine Wut geschürt.
Die Kreatur schwamm erneut auf das Schiff zu. Auch Lysandra warf einen Speer, der ebenfalls leicht in die Rückenhaut eindrang, doch wenig ausrichtete.
»Bei Sucellos, warum kann er nicht bei Tag angreifen, wenn ich in der Gestalt des Greifen bin?«, rief Cel.
Auch Lysandra war dieser Gedanke bereits gekommen.
Wieder krachte der Hai gegen das Schiff. Viele der Männer schrien. Holz knirschte.
»So wie sich das anhört, könnten ein paar Planken angebrochen sein. Lange wird das Schiff dem Ansturm nicht mehr gewachsen sein.« Hiram schien verzweifelt.
Lysandra klopfte das Herz vor Furcht laut und schmerzhaft in ihrer Brust. Sie waren alle verloren!
»Soll ich es mal mit einem Brandpfeil versuchen?«, fragte Lysandra.
Hiram schüttelte den Kopf. »Er kann lange genug untertauchen, um das Feuer zu verlöschen und anschließend von unten angreifen und das Schiff umstürzen oder es brennend rammen, sodass es auch in Brand gerät.
»Da, er kommt wieder!« Belzzasars Stimme bebte vor Angst.
Cel ergriff einen Speer.
»Das wird keinen Zweck haben«, sagte Hiram. »Seine Haut ist zu hart, zu glatt und zu dick. Der Speer prallt ab, bevor er ihm tiefere Wunden zufügen kann. Einen derart großen Hai habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«
Der Hai schwamm erneut auf das Schiff zu. Lysandra fröstelte.
Cel drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Wenn wir schon sterben müssen, können wir das ebenso gut gleich tun.« Mit diesen Worten sprang er über Bord, direkt auf den hinteren Teil des Haikopfes.
Cel schlitterte ein wenig, doch fand er Halt, als er den Speer in ein Auge der Kreatur stieß, ihn sofort wieder herauszog und in das andere rammte und sein volles Gewicht darauflegte. Blutfontänen schossen
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