Der Kuss Des Kjer
Schließlich senkte Dunkelheit sich endgültig über sie, nur gemildert durch das milchhelle Licht der Monde, die nacheinander über den Berggipfeln erschienen. Die Lippe zwischen die Zähne gezogen, beobachtete Lijanas, wie Mordan die Reste ihrer Vorräte wieder in dem Lederbeutel verstaute, dann atmete sie tief durch und stellte die Frage, die ihr schon seit der Schlucht auf der Zunge brannte.
»Woher wusstet Ihr es?«
»Was?« Er verschnürte den Beutel sorgfältig, dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Felsen und legte das Kereshtai so neben sich, dass seine Hand entspannt auf dem Griff ruhte.
»Dass Ihr diesen Kreis mit dem Schwert ziehen musstet, um sie von uns fernzuhalten.«
»Ich wusste es nicht wirklich«, gestand er nach einem langen Moment und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Als dieser Nebel aufkam, da war plötzlich ein Wispern ... Es waren Worte, die ich kannte. >Gorásh baDúr gis Kadai é Kadas, na Eddar - é Kesthan gis baAshk! < - Der letzte Vers aus dem Ashk-Keshtani. «
»Dieser ... Tanz, bei dem ich Euch in Cavallin beobachtet habe? Aber ich dachte, es sei nur eine ... eine Übung mit dem Schwert. «
»Der Ashk-Keshtani ist mehr als nur ein Tanz oder eine Übung mit dem Schwert, Lijanas. Er ist mehr ... ein Versenken im eigenen Selbst. Es gibt allein fünf Kodizes, die seine Bedeutung lehren und die Art, wie er richtig getanzt werden muss - die Coraji Ask-Kestani. Aber es gibt auch noch eine Urschrift, den eigentlichen Ashk-Keshtani. Er spricht von ganz anderen Dingen als jenen, die in den Coraji stehen. In ihm geht es um Reinheit und Harmonie, die Verschmelzung von Seele und Kraft. Er umfasst gerade eine Schriftrolle und liest sich so wunderschön wie ein Lied oder Gedicht. Und das > Gorásh baDúr gis Kadai e Kadas, na Eddar - e Kesthan gis baAshk! < ist der letzte Vers daraus. Übersetzt würde es so viel heißen wie:
>Schließe den Kreis mit Stahl und Blut! Sei eins - und tanze mit den Seelen.< «
Sacht strich er mit den Fingern über die Klinge seines Kereshtai, während er leicht die Schultern hob. »Manche übersetzen das >baAshk< auch mit >Schatten<. Deshalb bin ich darauf gekommen. - Ich habe nichts anderes getan, als den Kreis um uns zu schließen und ihnen zu sagen, dass ich bereit bin, mit ihnen zu tanzen, wie man es auch nach der Urschrift tut, wenn man den Keshtani alleine tanzt. >Soár nará gondaji! Das war alles. Warum sie nicht mit mir tanzen wollten ... « Er sah sie mit einem schiefen Grinsen von der Seite an. »Vielleicht ist mein Ruf mir ja vorausgeeilt, was meint Ihr, Lijanas?«
»Welcher Ruf? - Ihr seid bodenlos arrogant, Kjer!« Lijanas schlug nach ihm, dankbar, dass er versuchte, sie aufzuheitern.
Mühelos fing er ihre Hand ein. Sein Lachen war eine weiße Dampfwolke. »Ein paar gute Eigenschaften müsst Ihr mir schon zugestehen, Heilerin.«
In gespielter Empörung schnappte sie nach Luft und riss ihre Hand frei.
»Woher wisst Ihr das alles?«, fragte sie dann, wieder ernst.
»Ich habe viel gelesen.« Als sie überrascht die Augen aufriss, wurden seine Lippen schmal. »Ihr wundert Euch, dass einer wie ich überhaupt lesen kann, was?«
Sie erinnerte sich an das Gefühl der Ehrfurcht und Freude angesichts eines uralten Folianten, an den Hunger nach Wissen ... »Nein. Ihr seid ein Heerführer. Jemand in Eurer Position sollte lesen und auch schreiben können. - Das >viel< hat mich nur verwirrt. Was ist bei Euch >viel«
»Ihr wisst sehr gut, dass ich nicht immer Heerführer war. - Und was ist viel ... ? Ich weiß es nicht! Die Schriftensammlung in den Hallen der Kessanan ist riesig. Ein Großteil ist verboten und nur den Hohen Meistern vorbehalten - aber ein paar Hundert Kodizes und etwa doppelt so viele Schriftrollen werden es wohl gewesen sein. - Ihr friert, Lijanas! Kommt her und lasst Euch warm halten. Ich war ein Narr, zu glauben, dass wir diese verdammte Quelle in ein paar Stunden finden könnten. Aber hier oben nach Holz zu suchen, ist verschwendete Zeit. «
Lijanas konnte nicht anders, als ihn verblüfft anzustarren, während er sie dichter an sich zog und seinen Umhang auch um sie legte. Sie hatte sich selbst für gebildet gehalten, aber er ... Ein paar Hundert Kodizes ... Gnädige, hab Erbarmen, und das sagt er daher, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass einer überhaupt lesen kann. Es fühlte sich richtig an, den Kopf gegen seine Schulter zu betten. »Kommt es oft vor, dass Unfreie bei den Kessanan ausgebildet
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