Der Kuss Des Kjer
knappen Wink hinaus.
Erst als er mit seinem Neffen allein war, sprach Rusan. »Nein, Überfälle der Kjer sind nicht der Grund, warum ich dich nach Anschara zurückrufen ließ. Es geht um Lijanas! «
»Lijanas?« Ahmeer ließ den Becher sinken und richtete sich alarmiert auf. »Was ist mit ihr?«
»Sie wurde entführt! «
»Entführt? Was ... Wann?«
»Vor drei Nächten! - Der Letzte, der sie sah, ist ein Heiler aus der Nordstadt. Er hat berichtet, dass sie zu einem Kranken im >Schwarzen Lamm< gerufen wurde ... «
»Wurde der Kranke befragt?« Ahmeer stellte den Wein beiseite und stand auf.
Unruhig fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar, blickte auf seinen Oheim hinab.
Der schüttelte den Kopf.
»Er verließ das >Lamm< in der gleichen Nacht, in der das Mädchen verschwand.
Meine Wachen suchten nach ihm und seinen Begleitern. «
»Suchten? Das heißt, man hat ihn gefunden?«
»Ja!«
»Was hat er gesagt? War Lijanas bei ihm?«
Rusan erhob sich ebenfalls von den Polstern und schritt ans Fenster. Die Sonne verwandelte die See in eine goldene Ebene. Ahmeer trat neben ihn. » Onkel, bitte! «
»Ein Trupp Krieger traf mit den Männern nördlich von hier, in der Nähe von Messaladijar, zusammen. Von zehn meiner Soldaten kam nur einer zurück - und auch er hat nur durch einen glücklichen Zufall überlebt. « Seine erhobene Hand verhinderte die Frage seines Neffen. »Er hat Lijanas gesehen. Nach seinem Bericht war sie unverletzt, wenn auch schmutzig und erschöpft. - Aber er hat die Männer erkannt, die bei ihr sind. Es sind Kjer-Krieger! Ahmeer, Lijanas befindet sich in der Hand des Blutwolfs! «
»Was?« Der junge Krieger fuhr zurück, als hätte man ihn geschlagen. »Aber ...
Warum?«
»Eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Warum schickt Haffren seinen ersten Heerführer, um eine Heilerin zu entführen?« Rusan hob kurz die Schultern. »Und warum bringt der sie nicht auf direktem Wege nach Turas? Offenbar will er in den Nordwesten mit ihr - quer durch Astrachar. Warum nimmt er diesen Umweg und damit die Gefahr, dass man ihn auf fremdem Boden stellt, in Kauf?«
In einer verzweifelten Geste presste Ahmeer die Hand gegen die Stirn. »Ich weiß es nicht, Onkel. Es ergibt auch für mich keinen Sinn! Aber ich bitte darum, sie mit einigen Kriegern verfolgen zu dürfen. «
»Nein! Ich verbiete es! «
»Onkel ... «
»Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst. Der Blutwolf hat seinen persönlichen Kreis bei sich. Jeder dieser fünf Kjer sucht seinesgleichen.«
» Ich habe von ihnen gehört - aber auch diese Bestien kann man töten. Lass mich gehen, Onkel! Bitte! « Mit einem beredten Blick sah Ahmeer auf den kraftlos herabhängenden Arm seines Oheims. »Lass mich Lijanas zurückholen - und ich bringe dir den Blutwolf in Ketten als Dreingabe! «
»Ahmeer ... «
»Onkel, bitte! Ich werde auf jeden Fall gehen! Aber ich würde es ungern gegen deinen Willen tun. «
Schweigend musterte Rusan den jungen Krieger einen Moment, dann nickte er langsam. »Da ich dich von deinem Entschluss nicht abbringen kann ... Zwanzig Männer aus meiner persönlichen Garde werden dich begleiten.« Plötzlich zuckte ein eisiges Lächeln um die Lippen des Fürsten der Nivard. »Hol deine Braut zurück, junge, und bring mir den Blutwolf! Lebend! Er soll seine gerechte Strafe für all das erhalten, was er unserem Volk angetan hat! «
»Danke, Onkel! « Ahmeer verneigte sich knapp, dann verließ er hastig den Raum.
Einen Augenblick sah Rusan ihm nach, die Finger so fest um den Weinpokal geschlossen, dass sich dessen Schmuckornamente tief in seine Handfläche gruben. Es war richtig, Ahmeer nach dem Mädchen suchen zu lassen! Sie war seine Braut! Er konnte es nicht verbieten! Rusan schüttelte den Kopf und blickte zur Decke. Dass er den jungen gehen ließ, bedeutete noch lange nicht, dass er es gern tat. Ahmeer war der einzige männliche Verwandte, der ihm geblieben war - sein Erbe.
Was bei den Qualen des endlosen Labyrinths bezweckte Haffren damit, dass er Lijanas entführen ließ - ausgerechnet von seinem ersten Heerführer, einem Mann, der seit Sajidarrah als vollkommen skrupellos galt? Oder war das Mädchen am Ende nur der Köder in einer wohldurchdachten Falle? Rusan stellte den Pokal so heftig beiseite, dass der Wein sich in einer roten Lache über den goldgeäderten, weißen Marmor des Fußbodens ergoss, und begann unruhig auf- und abzugehen. Aber wem galt die Falle?
Ihm selbst? Ahmeer? Scharf sog er den Atem ein.
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