Der Kuss des Morgenlichts
Aurora greifen zu können, tobte der Kampf auch schon an einer ganz anderen Stelle des Flurs. Nathan hatte recht – ich war viel zu langsam, zu schwerfällig, um irgendwie eingreifen zu können.
Dann endlich hörte das Klirren, das Schreien, das Stöhnen auf. Ich sah, wie Cara das Schwert senkte und Aurora schützend an sich zog, und wie die Kreatur reglos vor ihr lag. Erst jetzt fühlte ich Schmerz in meinem Magen – ein Ellbogen musste mich dort getroffen haben. Wäre es ein Schwert gewesen, ich wäre längst tot, und Nathan hätte es nicht verhindern können, denn der schlug – wie ich nun hörte – im Wohnzimmer einen weiteren Angriff zurück.
Nathan hat recht, ging es mir durch den Kopf. Caspars Kreaturen haben es auf Aurora abgesehen, nicht auf mich. Und Nathan und Cara können uns beide auf Dauer nicht beschützen.
Ich unterdrückte den Drang, nach Aurora zu sehen, sie zu umarmen, sie wieder und wieder zu fragen, ob es ihr gut gehe, sondern vertraute darauf, dass sie in Caras Händen am sichersten war.
Fieberhaft blickte ich mich um. Wo hatte ich gestern meine Tasche abgelegt? Die Tasche mit meinem Handy?
In dem Moment, in dem ich sie fand – sie lag unter dem Kleiderständer –, schoss wieder ein schwarzer Schatten an mir vorbei. Ich duckte mich instinktiv, kroch, ohne den Blick zu heben, an der Wand entlang, gewiss, dass ein ähnlicher Kampf um mich herum tobte wie eben erst. Ich versuchte, ihn nicht zu beachten, wusste, dass ich weder etwas erkennen noch eingreifen könnte, und konzentrierte mich ganz auf meine Aufgabe, die Polizei zu rufen.
Jetzt endlich war ich nahe genug an meine Tasche herangekommen, griff danach, zog das Handy hervor, drückte hektisch auf die Tasten. Das Display blieb dunkel, der Akku war leer. Die gestrige Aufnahme, die ich wieder und wieder abgehört hatte, hatte zu viel Energie verbraucht.
Ich versuchte die Kampfgeräusche hinter mir zu ignorieren und einen kühlen Kopf zu bewahren. Das Festnetztelefon war im Wohnzimmer – es war unmöglich, es zu erreichen. Was sollte ich also jetzt tun? Nathan und Cara hatten nicht gesagt, dass ich notfalls auch das Haus verlassen durfte, um jemanden zu holen, aber konnte ich es trotzdem wagen? Von fünf oder sechs Angreifern war vorhin die Rede gewesen: Einer lag tot im Flur, zwei andere reglos im Wohnzimmer; Cara und Nathan kämpften eben verbittert gegen die restlichen. Wenn sie diese besiegt hatten – war dann die Gefahr gebannt? Oder hatte Caspar schon weitere Gehilfen auf den Weg geschickt?
Ich verharrte eine Weile geduckt, dann hörte ich Aurora plötzlich voller Angst aufschreien, und in diesem Moment wusste ich genau, was ich zu tun hatte.
Im nächsten Augenblick stand ich neben dem Auto. Nein, ich konnte mich nicht so schnell bewegen wie ein Nephil, aber ich konnte jetzt handeln, ohne zu zögern. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich einen Fuß vor den anderen gesetzt und die Villa verlassen hatte.
Ich wollte die Autotür öffnen, merkte, dass sie zugesperrt war und kramte unwillkürlich nach dem Schlüssel. Endlich fand ich ihn in der Tiefe meiner Jacke und steckte ihn zitternd ins Schloss. Ich hatte die Autotür gerade geöffnet und beugte mich vor, um einzusteigen, als ich hinter mir plötzlich dieses ebenso unangenehme wie vertraute Geräusch hörte, so als würden Styroporplatten aneinandergerieben.
Ich fuhr herum, sah etwas Schwarzes – einen Mantel oder vielmehr schwarze Flügel. Doch es war weder das eine noch das andere: es war ein schwarzes Hemd.
Kaum einen Meter von mir entfernt stand Caspar von Kranichstein. Sein Gesicht hatte mich bei den bisherigen Begegnungen immer an eine Maske erinnert, schlaff und wächsern. Jetzt schien seine Haut leicht gerötet und frischer. Kam das von der Lebenskraft der Menschen, die er dafür getötet hatte?
Sein Blick schien sich in mich zu bohren. Er blieb immer noch starr stehen, hob aber jetzt langsam seine Hand. Sie kam meinem Gesicht immer näher.
»Ich dachte, du wolltest meine Tochter?«, brachte ich tonlos hervor. Das Du kam mir ganz selbstverständlich von den Lippen. Es war keine Zeit mehr für Förmlichkeiten, für höfliche Distanz.
»Auch«, sagte er schlicht. »Aber nicht nur.« Er brach in Gekicher aus: »Es war mir klar, dass Nathan und Cara ganz mühelos mit meiner Brut zurechtkommen würden. Und es war mir auch klar, dass sie glauben würden, vor allem Aurora schützen zu müssen.« Sein Gekicher verstummte. »Wie leichtsinnig … «, fügte er mit
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